Der Rote Wolf

Titel: Der Rote Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Marklund

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Leben. Er hat mich zu sehr verletzt.«
    Annika betrachtete den Mann neben sich, seine wachsbleiche Haut, die zitternden Hände. Sollte sie ihn sterben lassen? Geschah ihm das nicht recht?
    Sie ließ Göran Nilsson liegen und ging zu dem Mann, der an der Wand lehnte.
    »Yngve?«, sagte sie. »Heißen Sie Yngve?«
    Der Mann nickte, er hatte die Hände in die Achselhöhlen geschoben, um sie so zu wärmen.
    »Kommen Sie her«, sagte sie und öffnete ihre Polarjacke. »Kommen Sie und stellen Sie sich neben mich. Wir werden jetzt spazieren gehen.«
    Er schüttelte energisch den Kopf und umarmte seine fast leere Flasche.
    »Dann eben nicht«, meinte Annika, schloss ihre Jacke wieder und sah zu der Ministerin.
    »Er hat eine Waffe«, sagte Karina Björnlund. »Wir könnten die Tür aufschießen.«
    Annika schüttelte den Kopf.
    »Es ist eine Eisentür. Die Kugeln würden als Querschläger durch den Raum fliegen und uns alle umbringen. Außerdem müssten wir schon das Vorhängeschloss an der Außenseite treffen, um hinauszukommen.«
    »Was ist mit den Fenstern?«
    »Das Gleiche.«
    Sollte sie erzählen, dass sie die Polizei alarmiert hatte?
    Wie würden die anderen darauf reagieren?
    »Ich wusste, dass es so enden würde«, sagte Karina Björnlund durch die Nase.
    »Die Sache mit den wilden Tieren war von Anfang an eine Katastrophe. Ich hätte niemals mitgehen sollen, als sie sich von der SKP abspalteten.«
    Die Kultusministerin wühlte in ihrer Tasche, zog ein schwarzes Kleidungsstück heraus, vielleicht ein T-Shirt, und hielt es sich unter die Nase.
    »Warum nicht?«, sagte Annika und sah den Schatten der Ministerin über die Wand tanzen, als sie sich hinter der Kerze bewegte.
    »Sie waren in den Sechzigern vermutlich noch gar nicht geboren«, meinte Karina Björnlund nasal und warf Annika einen kurzen Blick zu. »Es dürfte für jemanden aus Ihrer Generation relativ schwierig sein, sich vorzustellen, wie es war, aber, um ehrlich zu sein, es war fantastisch.«
    Annika nickte nachdenklich.
    »Ich habe eine vage Ahnung«, sagte sie. »Sie waren jung, und Göran war der Führer.«
    Die Ministerin nickte eifrig.
    »Er war so stark und intelligent«, erwiderte sie, »und brachte alle auf seine Seite.
    Alle Mädchen wollten mit ihm zusammen sein, alle Jungen blickten zu ihm auf.
    Aber ich hätte den Absprung schaffen sollen, als er ausgeschlossen wurde. Es war dumm von mir, mich auf sein Projekt mit den wilden Tieren einzulassen.«
    Karina Björnlund verlor sich für einen Moment in Erinnerungen, und Annika sah sie mit immer klareren Augen.
    »Wie kommt es, dass man Sie nie erwischt hat?«, fragte Annika.
    Die Ministerin sah auf.
    »Nun ja, ich selbst habe ja nie etwas gemacht, und Göran agierte sehr durchdacht. Wir verständigten uns ausschließlich über Symbole, eine alte, heute in Vergessenheit geratene Sprache, die sich allen Menschen erschließt und alle Nationalitätsgrenzen, Rassen und andere Ausdrucksformen überschreitet.«
    »Keine Versammlungsprotokolle?«, fragte Annika.
    »Nicht einmal Briefe oder Telefonate«, antwortete Karina Björnlund. »Die Einladung zu unseren Treffen bestand in der Zeichnung eines gelben Drachen.
    Ein, zwei Tage später erhielten wir dann eine Zahlenkombination, die Tag und Uhrzeit der Versammlung angab. 23-11-17 bedeutete, am 23. November um fünf, also heute.«
    »Jeder von Ihnen hatte sein eigenes Symbol?«
    Die Frau nickte schwach, hielt sich immer noch das T-Shirt an die Nase.
    »Aber nur der Drache konnte zu einer Versammlung einladen.«
    »Und Ende Oktober bekamen Sie dann wieder eine Einladung, in einem an das Ministerium gerichteten, anonymen Brief.«
    Erneut trat Angst in die Augen der Ministerin.
    »Es dauerte ein paar Sekunden, bis mir klar wurde, was ich da sah, und als ich es dann begriff, musste ich mich erst mal übergeben.«
    »Dennoch sind Sie hergekommen«, sagte Annika.
    »Sie verstehen das nicht«, flüsterte die Ministerin. »All die Jahre habe ich in Angst gelebt. Nach F21 und Görans Verschwinden bekam ich eine Warnung mit der Post …«
    Sie verbarg ihr Gesicht im Pullover.
    »Einen Kinderfinger«, sagte Annika, und Karina Björnlund blickte erstaunt auf.
    »Woher wissen Sie das?«
    »Ich habe mit Margit Axelssons Mann Thord gesprochen. Die Symbolsprache ließ an Deutlichkeit wirklich nichts zu wünschen übrig.«
    Karina Björnlund nickte.
    »Wenn ich nicht schwieg, würde ich umkommen. Aber nicht nur ich, sondern auch meine zukünftigen Kinder und andere mir nahe