Der Rote Wolf
hat gefragt.«
»Und was hast du ihnen gesagt, Linus?«
Seine Stimme stieg ins Falsett, als er antwortete.
»Dass ich nichts gesehen habe, natürlich. Ich kam nach Hause, wie ich sollte. Ich weiß nichts. Gehen Sie jetzt!«
Er machte einen Schritt auf sie zu und hob die Arme, als wollte er sie zur Tür hinausstoßen. Annika blieb stehen.
»Mit der Presse zu sprechen ist was anderes, als mit der Polizei zu reden«, sagte sie langsam.
»Ja, klar«, erwiderte Linus. »Wenn man mit der Presse spricht, kommt man auf die erste Seite.«
»Jeder, der uns etwas sagt, kann anonym bleiben, wenn er will. Keine staatliche Behörde hat das Recht, uns zu fragen, mit wem wir gesprochen haben, das wäre ein Verstoß gegen das Grundgesetz. Das nennt man Meinungsfreiheit. Hat Benny mal davon gesprochen?«
Der Junge stand schweigend, mit großen Augen und sehr skeptisch vor ihr.
»Wenn du etwas gesehen hast, Linus, oder jemanden kennst, der etwas gesehen hat, kann sich diese Person an mich wenden und es mir erzählen, und niemand wird erfahren, dass ausgerechnet er es gesagt hat.«
»Würden Sie dieser Person denn glauben?« »Das weiß ich nicht, es käme natürlich darauf an, was derjenige zu sagen hätte.«
»Aber Sie würden es in der Zeitung schreiben?« »Ich würde nur die Informationen bringen, aber nicht sagen, woher sie stammen, wenn mein Informant das nicht will.«
Sie sah den Jungen an und wusste, dass ihre Intuition sie nicht getrogen hatte.
»Du bist in Wahrheit gar nicht zur vereinbarten Zeit nach Hause gekommen, nicht wahr, Linus?«
Der Junge verlagerte sein Gewicht von einem schmalen Bein auf das andere und schluckte, dass sein Adamsapfel hüpfte.
»Wann hättest du nach Hause kommen sollen?«
»Mit dem letzten Bus, der letzte Einser fahrt um 21.36 Uhr.«
»Und was hast du stattdessen gemacht?«
»Es gibt noch einen Nachtbus, Linie 51, der beim Mefos, dem Metallwerk, hält, er ist eigentlich für die Arbeiter, die in der Fabrik Schichtarbeit machen … ich nehm ihn manchmal, wenn ich spät unterwegs bin.«
»Aber dann musst du noch ein Stück zu Fuß gehen, oder?«
»Es ist nicht besonders weit, nur die Fußgängerbrücke über die Gleise und dann die Skeppargatan runter …«
Er sah weg und ging ungelenk in sein Zimmer. Annika folgte ihm. Als sie das Zimmer betrat, hatte er sich auf das Bett gesetzt, das von einer Tagesdecke und ein paar Zierkissen bedeckt war. Auf dem Schreibtisch sah sie ein paar aufgeschlagene Schulbücher und einen Computer aus der Steinzeit, ansonsten stand alles in dem Zimmer in Regalen oder lag in Stapeln auf dem Fußboden.
»Woher bist du gekommen?«
Er zog die Füße unter sich und sah auf seine Hände. »Alex hat einen Breitband-Anschluss, wir haben im Internet Teslatron gespielt.«
»Wo sind deine Eltern …«
»Mama«, unterbrach er sie und schaute mit wütenden Augen zu ihr auf. »Ich wohne hier allein mit Mama.« Dann sah er wieder zu Boden.
»Sie arbeitet in der Nachtschicht. Ich habe ihr versprochen, so spät nicht mehr unterwegs zu sein. Die Nachbarn passen auf, deshalb muss ich mich reinschleichen, wenn es spät wird.«
Annika betrachtete den großen kleinen Jungen auf dem Bett und sehnte sich für einen Moment innig nach ihren eigenen Kindern. Die Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie musste tief durchatmen, um sie unterdrücken zu können.
So wird Kalle in ein paar Jahren sein, dachte sie. Verletzlich, smart, cool, welpenhaft.
»Dann hast du also den zweiten Bus genommen, den Nachtbus?«, sagte sie mit etwas zittriger Stimme.
»Halb eins vom Busbahnhof, genau wie Benny. Er kennt meine Mutter, in Svartöstaden kennt jeder jeden, also habe ich mich nach ganz hinten verdrückt.«
»Dann hat er dich also nicht gesehen?«
Der Junge machte ein Gesicht, als wäre Annika geistig ein wenig zurückgeblieben.
»Der war doch total betrunken. Sonst hätte er bestimmt sein Auto genommen. Ist doch logo, oder?«
Ist doch logo, dachte sie und wartete schweigend auf die Fortsetzung.
»Er ist im Bus eingeschlafen«, fuhr der Junge fort. »Der Fahrer musste ihn am Mefos wecken. Ich hab mich währenddessen zur hinteren Tür hinausgeschlichen.«
»Wo wohnte Benny?«
»In der Laxgatan hier drüben.«
Er zeigte in eine Richtung, die Annika nicht definieren konnte.
»Und du hast ihn von der Bushaltestelle aus nach Hause gehen sehen?«
»Ja, aber er hat mich nicht bemerkt. Ich bin hinter ihm geblieben, und es schneite ganz schön.«
Der Junge verstummte. Annika
Weitere Kostenlose Bücher