Der Rote Wolf
wurde es in ihrem Anorak zu warm. Wortlos streifte sie die Jacke ab, hielt sie sich dann vor die Brust und setzte sich auf den Stuhl am Schreibtisch.
»Was hast du gesehen, Linus?«
Der Junge senkte den Kopf noch weiter und begann die Finger ineinander zu schlingen.
»Da stand ein Auto«, sagte er. Annika wartete. »Ein Auto?« Er nickte heftig.
»Ein Volvo V70, obwohl ich das erst nicht gesehen habe.« »Wo hat du den Wagen gesehen?« Er schluchzte auf.
»Er hatte ein Stück auf den Fußballplatz zurückgesetzt, man sah nur das halbe Auto. Der vordere Teil ragte hinter einer Tanne heraus.«
»Aber er ist dir aufgefallen?«
Er antwortete nicht, flocht die Finger ineinander.
»Warum ist er dir aufgefallen?«
Der Junge sah auf, sein Kinn zitterte.
»Es saß jemand in dem Auto«, sagte er. »Es gibt da eine gelbe Straßenlaterne an der Kreuzung, und die beleuchtete das Wageninnere ein bisschen. Man sah seine Hand, die auf dem Lenkrad lag, er hielt es irgendwie so.«
Der Junge hielt eine Hand hoch, ließ sie locker in der Luft auf einem imaginären Lenkrad ruhen, und seine Augen waren so schwarz wie Brunnenschächte.
»Und was hast du dann gemacht?«
»Gewartet. Ich wusste doch nicht, wer das war.«
»Aber du hast gesehen, dass es ein V70 war?«
Er schüttelte wild den Kopf.
»Da noch nicht. Erst später, als er herausfuhr. Da habe ich die Heckleuchten gesehen.«
»Was war denn mit den Heckleuchten?«
»Die gingen bis zum Autodach hoch, ich finde, das sieht echt super aus. Ich bin mir fast sicher, dass es ein V70 war, in Gold …«
»Und der Mann im Auto ließ den Motor an und fuhr weg?«
Linus nickte, schüttelte sich, riss sich zusammen.
»Er ließ den Motor an und bog langsam auf die Straße, und dann hat er das Gaspedal durchgetreten.«
Annika wartete.
»Benny war zwar betrunken«, sagte der Junge, »aber er hörte natürlich das Auto und ging zur Seite, aber das Auto ist ihm gefolgt, und da ist Benny auf die andere Straßenseite gelaufen, und dann schwenkte der Wagen auch dahin, und dann war er irgendwie mitten auf der Straße, als das Auto …«
Er atmete tief durch.
»Was ist passiert?«
»Es machte irgendwie bumm, bumm, und dann flog er.«
»Es machte zwei Mal bumm, und dann wurde Benny in die Luft geschleudert?
Und landete an dem Zaun vor dem Fußballfeld?«
Der Junge schwieg ein paar Sekunden, dann senkte er den Kopf. Annika musste den Wunsch unterdrücken, ihn in den Arm zu nehmen.
»Er landete nicht am Fußballfeld?«
Linus schüttelte den Kopf und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase.
»Er landete mitten auf der Straße«, sagte er kaum hörbar. »Und der Wagen hat gebremst, sodass die ganzen Heckleuchten angingen, in dem Moment habe ich gesehen, welcher Volvo es war. Und dann hat er zurückgesetzt, und Benny lag auf der Straße, und er hat ihn wieder überfahren, und dann hat er irgendwie …
auf seinen Kopf gezielt, und dann ist er über sein Gesicht gefahren …«
Annika drehte sich der Magen um. »Bist du sicher?«, flüsterte sie.
Der Junge nickte, und sie starrte auf seine Kopfhaut hinab, die zwischen den gegelten Haarsträhnen zu sehen war.
»Dann stieg er aus, nahm Bennys Füße, schleppte ihn zu dem Zaun rauf und …
klopfte ihn irgendwie ab. Und dann ging er zu seinem Auto und bog in die Sjöfartsgatan ab, die zum Hafen runterführt …«
Annika sah den Jungen mit neuen Augen, mit einem Filter aus Misstrauen, Grauen und Mitleid. War das wirklich wahr? Wie schrecklich! Der arme Junge.
»Was hast du dann getan?«
Der Junge begann zu zittern, erst an den Händen, dann am ganzen Körper.
»Ich bin … zu Benny gegangen, er lag an dem hohen Zaun und … war tot.«
Er schlang seine Arme um den Oberkörper, schaukelte sanft.
»Ein Teil vom Kopf und das Gesicht waren weg, es lief auf die Erde, und der ganze Rücken war total krumm, aber in die falsche Richtung … also habe ich kapiert, dass er … und da bin ich einfach nach Hause gegangen, aber ich konnte überhaupt nicht schlafen.«
»Und der Polizei hast du von alldem nichts erzählt?«
Er schüttelte wieder den Kopf und wischte mit seiner zitternden Hand ein paar Tränen weg.
»Ich habe Mama doch gesagt, ich wäre um Viertel vor zehn zu Hause gewesen.«
Annika beugte sich vor und legte unbeholfen eine Hand auf sein Knie.
»Linus«, sagte sie, »was du mir gerade erzählt hast, ist ganz schrecklich. Es muss wirklich grauenhaft gewesen sein. Ich denke, du solltest mit einem anderen Erwachsenen
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