Der Rote Wolf
terroristischen Vereinigungen auf der Welt gehörte, die am wenigsten an Verhandlungen interessiert waren. Ihre Mitglieder mordeten um des Mordens willen. Als selbst ernannte Vertreter eines Vaterlands, das nie existiert hatte, forderten sie Vergeltung für Demütigungen, die nie begangen wurden.
Sie notierte sich: »Mehr über die Geschichte des Terrorismus lesen!«, und ging zum nächsten Punkt über.
Warum Ragnwald? Hatte der Deckname eine tiefere Bedeutung? Symbolisierte er etwas, das sie wissen sollte?
Rasch schlug sie den Namen im Lexikon nach und stellte fest, dass der Name eine Kombination der altisländischen Wörter
ragn,
göttliche Macht, und
vald,
Herrscher, war. Der Herrscher der göttlichen Mächte, kein schlechtes Pseudonym. Hatte es, abgesehen vom Größenwahn, noch etwas zu bedeuten?
Aber war der Terrorismus nicht genau das, eine Form von Größenwahn?
Sie seufzte und kämpfte gegen ihre Müdigkeit an. Der Kaffee war kalt geworden und schmeckte ekelhaft. Sie streckte sich, wurde von den Neonröhren geblendet.
Anschließend sah sie zu Berits Platz hinüber, aber die Kollegin war noch nicht gekommen. Sie zog die Tür zu ihrem Aquarium fest zu und machte weiter.
Dann waren da noch die Schuhe. Die Abdrücke waren die ganze Zeit über als eine der wenigen Spuren bekannt gewesen, die die Täter hinterlassen hatten, aber die Schuhgröße war niemals erwähnt worden.
36. Bei dieser Größe kam im Grunde nur eine kleine Frau oder ein sehr junger Mann, eigentlich eher ein Junge, in Betracht. Was war plausibler? Dass ein Zwölfjähriger Flugzeuge sprengte oder eine erwachsene Frau?
Er wurde vermutlich von einer Frau begleitet, notierte sie sich.
Aber wer sollte so etwas tun? Über die mögliche Mittäterin hatte Suup nichts weiter gesagt. Sie schrieb die Frage in ihre Notizen, aber man konnte ja trotzdem Vermutungen anstellen.
Welche Frauen waren zu Terroristinnen geworden? Gudrun Ensslin war die Geliebte von Andreas Baader. Ulrike Meinhof wurde weltberühmt, als sie Baader befreite. Francesca Mambro wurde dafür verurteilt, dass sie zusammen mit ihrem Mann Valerio Fioravanti den Bahnhof von Bologna in die Luft jagte.
Ragnwalds Geliebte, schrieb sie und fasste zusammen. Der junge Mann aus dem Tornedal hatte seine Heimat verlassen, in einer größeren südlich gelegenen Stadt gearbeitet oder studiert, war nach Nordschweden zurückgekehrt, Mitglied einer linken Splittergruppe geworden, und zwar unter dem Decknamen Ragnwald, Herrscher der göttlichen Mächte, was auf einen gewissen Größenwahn hindeutete. Er fand eine Geliebte, die er dazu überredete, zusammen mit ihm eine Jagdmaschine hochgehen zu lassen. Anschließend floh er aus dem Land und setzte seine Laufbahn als Mörder bei der ETA fort.
Sie seufzte und las sich ihre Notizen noch einmal durch.
Wenn sie etwas davon in der Zeitung unterbringen wollte, musste sie wesentlich konkretere Informationen vorlegen können. Sie sah auf die Uhr. Es war noch viel Zeit, bis sie Suup wieder anrufen konnte.
Miranda klingelte wie üblich Sturm. Anne Snapphane stürmte die Treppe hinunter, damit der alte Kotzbrocken in der unteren Etage nicht völlig ausflippte, hielt mit der einen Hand das Badehandtuch um den Körper fest, während die zweite den Frotteeturban auf dem Kopf an Ort und Stelle hielt.
Die Tür ließ sich nur schwer öffnen, wie üblich, wenn die Temperatur unter den Gefrierpunkt sank. Das Mädchen fiel ihr wortlos in die Arme, und sie bückte sich und umarmte es fest. Aus den Augenwinkeln sah sie Mehmet mit der Tasche ihrer gemeinsamen Tochter vom Auto heranschlendern, mit neutraler, aber etwas verbissener Miene.
»In der Küche sind Muffins«, flüsterte Anne dem Mädchen ins Ohr. Das Kind jubelte und lief die Treppe hinauf.
Einer trotzigen und hochmütigen Eingebung nachgebend, richtete sie sich auf, ohne das Handtuch um sich zu schlingen, und scherte sich nicht um die Nachbarn. Abgesehen von dem Handtuch um den Kopf, war sie jetzt splitterfasernackt. Sie sah Mehmet in die Augen und nahm die kleine Tasche entgegen. Er sah zu Boden.
»Anne«, sagte er, »du brauchst nicht …«
»Du wolltest mit mir reden«, sagte sie und zwang sich, ruhig zu sprechen. »Ich nehme mal an, es geht um Miranda.«
Sie kehrte ihm den Rücken zu und ließ auf der Treppe den Po vor seinen Augen wackeln. Dann ging sie ins Badezimmer, zog sich einen Bademantel über, blieb vor dem Spiegel stehen und versuchte sich selbst mit seinen Augen zu sehen.
»Möchtest
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