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Der Rote Wolf

Der Rote Wolf

Titel: Der Rote Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Marklund
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raste er ins Badezimmer und zerrte den Toilettendeckel hoch. Er schloss die Augen und vergoss ein paar Tränen, während der warme Strahl halbwegs in der Toilette landete. Nachher zog er nur die Unterhose hoch und blieb auf der Toilette sitzen, Hose und Skiunterhose bildeten zu seinen Füßen einen Haufen. Die Sonnenblumen lächelten von ihrer glänzenden Tapete auf ihn herab.
    Wie konnte er nur solche Angst bekommen, wie ein verdammtes Baby hatte er sich benommen. Er schnaubte verächtlich über sich selbst. Sonst hatte er doch nie Angst im Dunkeln gehabt.
    Langsam stand er auf, drückte die Klospülung, wusch sich die Hände und spülte den Mund aus. Heute Abend hatte er keine Lust, sich die Zähne zu putzen.
    Stattdessen strampelte er die Hosen von den Füßen, hob die Kleider auf und ging in sein Zimmer.
    Auf seinem Bett saß jemand.
    Der Gedanke tauchte aus dem Nichts auf, und er konnte ihn nicht glauben, obwohl er es mit eigenen Augen sah. Auf seinem Bett saß ein Schatten.
    Seine Arme fielen herab, die Kleider landeten auf dem Fußboden. Er wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus, denn der Schatten bewegte sich äußerst langsam, stand auf, kam auf ihn zu, füllte den Raum bis zur Decke.
    Dann hallte der Schrei zwischen den Wänden, der Junge wandte sich um und versuchte zu laufen, er hörte nichts mehr, die Farben waren verschwunden, das Bild war grobkörnig. Sein Blick richtete sich rasend schnell auf das blendende Licht im Flur, er sah seine eigene Hand am Gesicht vorbeifliegen, spürte die Verlagerung des Schwerpunkts von einem Fuß auf den anderen, bekam keine Luft, die Türöffnung kam näher, kippte, ein klebriger Handschuh war an seiner Stirn, ein anderer umschloss seinen linken Oberarm. Das Aufblitzen von etwas Glänzendem im Licht der Flurlampe.
    Chaos, ein jaulender Schrei in seinem Gehirn, warme Flüssigkeit auf seiner Brust. Dann der letzte, leuchtend klare Gedanke.
Mama.

FREITAG, 13. NOVEMBER
    Der Zug ratterte hypnotisch, sich fiebrig schüttelnd und monoton singend durch die Nacht. Der Mann lag in seinem Abteil erster Klasse, starrte zum Fenster hinaus und versuchte, die Linie der Baumwipfel vor dem schwarzen Sternenhimmel auszumachen. Der Schmerz drang durch seinen Morphiumrausch und ließ ihn aufstöhnen.
    Mühsam holte er eine weitere Tablette aus dem Necessaire unter dem Kissen und schluckte sie ohne Wasser. Ihre Wirkung setzte ein, noch ehe die Droge den Magen erreicht hatte, und er wurde endlich zur Ruhe gewiegt.
    Plötzlich befand er sich wieder auf einem der Marathongottesdienste seiner Kindheit, in dem großen Zeltlager außerhalb von Pajala im Tornedal, Tausende Menschen saßen auf harten Holzbänken, der Geruch von nassen Wollsachen und Sägespänen hing in der Luft. Die Männer am Rednerpult leierten ihren Text herunter, erst der eine auf Finnisch, dann ein zweiter, der alles ins Schwedische übersetzte. Ihre Stimmen sprachen monoton, an- und abschwellend und unendlich lange.
    Der Zug hielt mit einem Ruck an einem Bahnhof. Er sah auf den Bahnsteig hinaus, Längsele.
    Längsele?
    Er geriet in Panik, großer Gott, er fuhr ja in die falsche Richtung! Die Arme schössen hoch, sein Kopf hob sich vom synthetischen Kissen, er atmete stoßweise.
    Dans quelle direction est Längsele?
    Südlich, dachte er. Es liegt südlich, gleich oberhalb von Änge.
    Daraufhin ließ er sich wieder zurückfallen, wehrte sich gegen seinen eigenen Geruch, überprüfte, ob der Seesack noch am Fußende lag, und hustete matt. Er hörte eine Tür ins Schloss fallen und spürte den Ruck, als der Zug zur Weiterfahrt ansetzte. Er sah auf die Armbanduhr, 05.16 Uhr.
    Es gab keinen Grund zur Beunruhigung. Alles verlief nach Plan. Er war unterwegs, unsichtbar und nicht zu fassen, wie ein flackernder Schatten. Er hatte die Wahl, konnte sich in seinen freien Gedanken in einer unfreien Welt bewegen, zurückkehren oder verschwinden.
    Und er beschloss, zu dem Gottesdienst im Zelt zurückzukehren und die Bilder heraufzubeschwören, die verstaubt, vergilbt und verblichen, aber dennoch scharf in seinem Gedächtnis gelegen hatten.
    Ein Predigerpaar nach dem anderen trat ans Rednerpult, es war eine minutiös inszenierte Vorstellung, die unweigerlich mit einem Bibelzitat begann, einer halben Seite auf Finnisch, gefolgt von heruntergeleiertem Schwedisch, danach kamen die Deutungen, die Variationen, die Analysen und manchmal das Persönliche, die Bekenntnisse: Ich durchlebte in meiner Jugend schwere Tage und war ein

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