Der Rote Wolf
du einen Kaffee?«, rief sie, den Blick auf ihr Spiegelbild gerichtet.
»Nein danke«, antwortete er. »Ich muss zur Arbeit.«
Sie schluckte und begriff, dass es um etwas Unangenehmes gehen würde. Er wollte schnell die Flucht antreten können, keine glühend heiße Kaffeetasse in eiliger Verlegenheit hinunterkippen müssen.
»Ich will jedenfalls einen«, sagte sie und riss sich das Handtuch vom Kopf. Ihre Finger strichen durch die nassen Strähnen, während sie in die Küche ging und sich eine große Tasse eingoss.
Er stand im Wohnzimmer und sah in den Garten der Nachbarn. »Worum geht's?«, fragte sie und setzte sich auf die Couch.
»Wir wollen heiraten«, antwortete Mehmet und drehte sich um.
Sie spürte das Eindringen des Pfeils, ohne dagegen ankämpfen zu können.
»Das geht mich oder Miranda doch nichts mehr an«, sagte sie und blies auf ihren Kaffee.
Er setzte sich ihr gegenüber, die Beine weit gespreizt und die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt.
»Wir werden ein Kind bekommen, Miranda bekommt eine Schwester oder einen Bruder«, sagte er.
Ihr wurde schwindlig, und obwohl sie es nicht wollte, sah sie zu Boden.
»So, so«, meinte sie und hielt krampfhaft die Tasse fest. »Ich gratuliere.«
»Anne«, sagte er, »mir ist völlig klar, wie schwer das alles für dich ist …«
Sie blickte auf und atmete tief durch.
»Nein«, unterbrach sie ihn, »ich will dein Mitleid nicht. Was bedeutet das, rein praktisch, für Miranda?«
Mehmet presste die Lippen auf die Art zusammen, die ihr so vertraut war, und plötzlich empfand sie tiefe Sehnsucht nach dem Mann, der vor ihr saß. Obwohl es ihr peinlich war, konnte sie ein Schluchzen nicht unterdrücken.
Er streckte seine Hand nach ihrer Wange aus, und sie schloss die Augen und ließ sich streicheln.
»Wir möchten, dass sie dauerhaft bei uns wohnt«, sagte Mehmet. »Aber ich werde mich nie mit dir darüber streiten, wenn du damit nicht einverstanden sein solltest.«
Sie zwang sich zu einem Lachen.
»Du kannst mir ja einiges nehmen«, sagte sie, »aber nicht mein Kind. Hau ab.«
»Anne …« »Verschwinde!«
Ihre Stimme überschlug sich vor Zorn.
Ihre Tochter tauchte im Türrahmen auf und sah überrascht Mutter und Vater an.
»Seid ihr wütend?«, sagte sie mit einem halb aufgegessenen Muffin in der Hand.
Mehmet erhob sich stark und geschmeidig wie ein Raubtier, ging zu dem Kind und gab ihm einen Kuss auf die Haare.
»Wir sehen uns am Freitag, Liebes.«
»Warum ist Mama traurig? Bist du böse zu Mama gewesen?«
Anne schloss die Augen, hörte seine Schritte auf der Treppe. Sie wartete, bis die Haustür ins Schloss gefallen war, ehe sie zum Fenster stürzte und ihm nachsah.
Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging er zum Auto, holte sein Handy aus der Brusttasche und wählte eine Nummer.
Ihre Nummer, dachte Anne. Er ruft seine Verlobte an und erzählt ihr, was vorgefallen ist: Ich habe es ihr gesagt, es war verdammt unangenehm, sie hat sich aufgeregt und ist aggressiv geworden. Ich glaube nicht, dass sie das Mädchen freiwillig aufgibt.
Berit Hamrin klopfte an ihre Glastür, schob sie ein wenig auf und steckte den Kopf herein. »Hunger?«
Annika nahm die Hände von der Tastatur und horchte pflichtschuldig in sich hinein. »Eigentlich nein.«
Berit zog die Tür ganz auf und betrat den Raum.
»Du musst etwas essen«, entschied sie. »Wie sieht es denn hier aus? Wie kannst du in diesem Durcheinander nur arbeiten?«
»Wieso?«, fragte Annika erstaunt, sah sich um und schämte sich. »Was stimmt denn nicht?«
»Du hast doch einen Kleiderständer«, meinte Berit und hängte ihre Kleider auf.
»So, schon besser. In der Cafeteria gibt es heute Lasagne, ich habe zwei Portionen bestellt.«
Annika loggte sich aus dem System aus, damit keiner ihre Aufzeichnungen lesen oder Mails mit ihrem Absender verschicken konnte.
»Was machst du heute?«, fragte sie, um ihre Kollegin von dem Chaos abzulenken, das sie um sich erzeugt hatte.
Berit war wegen der bevorstehenden Europawahl für kurze Zeit von der Kriminalredaktion an das Politikressort ausgeliehen worden.
»Ich dokumentiere das Abstecken von Revieren«, sagte sie und seufzte. »Es passiert nichts Konkretes, aber man formiert sich, verständigt sich über die Parteigrenzen hinweg oder sucht nach Meinungsverschiedenheiten, die es gar nicht gibt.«
Annika lachte und folgte ihrer Kollegin in die Redaktion.
»Ich sehe die Schlagzeile schon vor mir: Die geheimen EU-Verhandlungen, und dann das
Weitere Kostenlose Bücher