Der Rote Wolf
überschaubare Menge von Treffern. Kurz gefasste Informationen über einen Folke Ragnwald, verstorben 1963, eine Seite mit Ahnenforschung von jemandem auf Malta, ein christdemokratischer Kan didat, bei dem nicht klar wurde, wo er sich eigentlich zur Wahl stellte.
Sie las schnell, ging weitere Treffer durch.
Ein französischer Familienstammbaum, eine deutsche Herrscherchronik, das Fan-Magazin eines dänischen Popstars.
Schließlich loggte sie sich aus und rief stattdessen Suup in Lulea an.
»Wir sind hier ein bisschen geschockt«, sagte der Kommissar und klang richtig bestürzt. »Ist etwas passiert?«
Annika nahm automatisch einen Stift in die Hand und fühlte sich augenblicklich schuldig für das Unausgesprochene.
»Ich kann im Moment noch nichts Genaues sagen«, erklärte der Polizist.
»Könnten Sie mich heute Nachmittag noch einmal anrufen? Dann wissen wir vielleicht schon mehr.«
Beim Klang seiner Stimme zog sich alles in ihr zusammen.
»Es geht um Ragnwald, oder?«, sagte sie. »Es ist etwas mit diesem Terroristen.«
Der Kommissar bestritt dies so erstaunt, dass sie ihm auf der Stelle glaubte.
»Ganz und gar nicht«, sagte er. »Rufen Sie nach 14 Uhr an. Ich kann Ihnen im Moment nicht mehr sagen.«
Sie schaute auf ihre Armbanduhr und wusste, dass es keinen Grund gab, den Polizisten im Moment, achtzehn Stunden vor der Deadline für alle Zeitungsmeldungen, zu bedrängen. Stattdessen bedankte sie sich, legte auf und breitete die Notizen von ihrer letzten Begegnung auf dem Tisch aus. Aber ehe sie anfing, brauchte sie unbedingt noch eine Tasse Kaffee.
Mit gesenktem Kopf ging sie an den Wänden entlang zum Kaffeeautomaten hinter der Sportredaktion, wich allen Blicken aus und holte sich gleich zwei Tassen auf einmal. Anschließend setzte sie sich wieder an den Schreibtisch, strukturierte ihr Material und versuchte sich ein Bild von ihrem Terroristen zu machen.
Der junge Mann aus dem Tornedal fuhr nach Süden, kehrte jedoch nach einiger Zeit wieder nach Lulea im Norden zurück.
Sie ließ die Hände sinken, trank einen Schluck Kaffee.
Warum ging ein junger Mann in den sechziger Jahren in den Süden des Landes?
Entweder, um zu arbeiten, oder, um zu studieren, dachte sie.
Warum kehrte er zurück?
Was immer er im Süden zu tun hatte, war abgeschlossen oder abgebrochen worden. Warum Lulea?
Wenn einem der Heimatort zu eng erscheint, man aber dennoch wieder in die Heimatregion zurückwill, entscheidet man sich für eine größere Stadt in der Nähe.
Aber warum die größte?
Er muss in einer Großstadt gewohnt haben, vielleicht in einer Großstadt mit Universität. Stockholm, Uppsala, Göteborg oder Lund.
Sie schrieb die Städte in ihren Computer, bemerkte aber sogleich ihren Denkfehler.
Es war gar nicht gesagt, dass der junge Mann sich damals überhaupt in Schweden aufhielt, im Prinzip konnte er überall gearbeitet oder studiert haben.
Aber das war ja alles lange vor unserem Beitritt zur EU, ermahnte sie sich und wandte sich anderen Fragen zu.
Wohin ist er dann gegangen?
Zur ETA? Nach Spanien? Aber warum?
Aus politischer Überzeugung, dachte sie, hatte aber schon ihre Zweifel.
An und für sich gehörten die baskischen Separatisten zu den wenigen terroristischen Gruppen, denen es tatsächlich gelungen war, mehrere ihrer Forderungen durchzusetzen, inklusive Demokratie und weitgehende politische Autonomie im Baskenland. Wenn die ETA nicht im Dezember 1973 Francos Nachfolger in die Luft gesprengt hätte, wäre Spaniens Übergang zur Demokratie vielleicht nicht so reibungslos verlaufen. Und soweit sie wusste, hatte das Baskenland inzwischen eine eigene Polizei, erhob selbständig Steuern und war auf dem besten Wege, sich in ein Steuerparadies für Unternehmen zu verwandeln.
Doch die ETA war auch, mehr als die meisten anderen Gruppen, zu einem Opfer der Verselbständigung des Terrors geworden. Nach den freien Wahlen 1977 gab es eine ganze Generation von Basken mittleren Alters, die ihr ganzes Leben als Erwachsene damit verbracht hatten, Terrorakte gegen den spanischen Staat zu verüben. Das friedliche Alltagsleben erschien ihnen zu trist, und so beschlossen sie, dass der demokratische Staat ebenso verabscheuungswürdig war wie die Diktatur, und nahmen das Morden wieder auf. Und die Regierung in Madrid rächte sich durch die Gründung der GAL, der antiterroristischen Befreiungsgruppe …
Sie musste mehr über die ETA in Erfahrung bringen. Das Einzige, was sie wusste, war, dass sie zu denjenigen
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