Der Rote Wolf
grobkörnige Foto eines erleuchteten Fensters im Regierungssitz.«
»Du hast schon zu lange hier gearbeitet«, sagte Berit.
Annika schloss die Tür hinter sich, und sie gingen zur Cafeteria. Hinter Berits Rücken war die Welt greifbar und sicher, der Fußboden solide, sie musste nicht daran zweifeln.
Die Cafeteria war halb leer und schummrig beleuchtet. Das meiste Licht fiel durch die Fenster am hinteren Ende. Die Besucher waren kaum erkennbar, hoben sich nur als schwarze Silhouetten vom Halbdunkel ab.
Sie setzten sich mit der dampfenden Mikrowellenlasagne an ein Fenster über dem Parkhaus.
»Und worüber schreibst du gerade?«, fragte Berit.
Annika betrachtete misstrauisch die Nudelscheiben.
»Über den Mord an dem Journalisten«, antwortete sie, »und die Sprengung des Flugzeugs auf F21. Die Polizei hat einen Verdächtigen, und zwar schon seit vielen Jahren.«
Berit hob erstaunt die Augenbrauen, schob sich etwas Hackfleisch in den Mund und bewegte in einer auffordernden Geste ihre Gabel.
»Er wird Ragnwald genannt, stammt aus dem Tornedal, ging in den Süden, kam zurück und wurde Terrorist, floh nach Spanien und schloss sich da der ETA an.«
Berit betrachtete sie skeptisch.
»Wann soll das gewesen sein?«
Annika lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Ende der sechziger Jahre.«
»Aha«, meinte Berit. »In den wunderbaren revolutionären Jahren. Es gab damals einige, die an eine Befreiung der Massen durch Terrorismus glaubten, allerdings nicht unbedingt in unseren Kreisen.«
»Und was waren deine Kreise?«
»Das Vietnam-Bulletin«, sagte Berit und kratzte die Reste am Boden des Tellers zusammen. »So bin ich zum Journalismus gekommen, habe ich das etwa nie erzählt?«
Annika durchforstete rasch ihre lückenhafte Erinnerung.
»Und in welchen Kreisen ging es um Terrorismus?«
Berit betrachtete zweifelnd Annikas halb aufgegessene Portion.
»Bist du wirklich schon fertig?«
Annika nickte entschieden, Berit seufzte und legte ihr Besteck weg.
»Ich hole uns Kaffee«, sagte sie und stand auf.
Annika blieb sitzen und sah ihrer Kollegin nach, die sich in die Kaffeeschlange einreihte, betrachtete die kurzen Haare, die am Hinterkopf ein wenig abstanden, spürte die Gelassenheit, die sie ausstrahlte. Annika lächelte, als Berit mit vollen Kaffeetassen und zwei Lebkuchen zurückkehrte.
»Du verwöhnst mich«, sagte Annika.
»Erzähl mir von deinem Terroristen«, erwiderte Berit.
»Erzähl du mir von den sechziger Jahren«, konterte Annika.
Berit stellte vorsichtig die Tassen auf den Tisch und sah Annika prüfend an.
»Okay«, sagte sie, setzte sich, ließ zwei Stück Zucker in ihren Kaffee plumpsen und rührte um. »Das war so. 1963 kam es zum offiziellen Bruch zwischen der Kommunistischen Partei der Sowjet union, KPdSU, und der Kommunistischen Partei Chinas, KPCh. Der Bruch hatte Auswirkungen auf alle kommunistischen Organisationen der Welt, wir bildeten da keine Ausnahme. Die Schwedische Kommunistische Partei, SKP, wurde in drei Flügel gespalten.« Sie wedelte mit dem linken Zeigefinger.
»Der rechte Flügel«, fuhr sie fort, »geführt von C.-H. Hermansson, distanzierte sich sowohl von den Stalinisten als auch von den Maoisten und landete bei einem altbackenen Revisionismus, den man fast schon sozialdemokratisch nennen konnte. Das ist die Partei, die heute Linkspartei heißt und mit fast zehn Prozent im Parlament vertreten ist.«
Berit nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und hob den Mittelfinger.
»Dann haben wir den mittleren Flügel, geführt von Alf Lövenborg, dem Chefredakteur der linken Zeitung
Norrskensflamman,
der sich für die Sowjetunion entschied.«
Sie wechselte den Finger.
»Und schließlich den linken Flügel, geführt von Nils Holmberg, der chinafreundlich war.«
»Wann ist das alles passiert?«, fragte Annika.
»Die SKP zerfiel nach ihrem 21. Parteitag im Mai 1967«, antwortete Berit. »Die Partei taufte sich daraufhin in Linkspartei Die Kommunisten um, der linke Flügel spaltete sich ab und bildete den kommunistischen Marxistisch-Leninistischen Verbunds Danach ging es ganz schnell. Revolutionäre Bewegungen schössen wie Pilze aus dem Boden. Im Frühjahr '68 gipfelte das alles in der Besetzung des Studentenhauses in Stockholm und der Rebellenbewegung in Uppsala. Diese Uppsala-Rebellen waren übrigens die Schlimmsten von allen. In dem Frühjahr damals haben sie uns die ganze Zeit gedroht.«
Sie hob die rechte Hand wie einen Telefonhörer ans Ohr.
»›Wenn ihr
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