Der rote Würfel
Er ist ein guter Mann, der einfach am falschen Platz arbeitet.
»Mußt du jetzt gehen?« fragt er traurig.
Ich beuge mich vor zu ihm und drücke ihm einen Kuß auf die Wange. »Ja. Aber wir sehen uns morgen.« Ich lehne mich wieder zurück und zwinkere ihm zu. »Wir werden uns amüsieren.«
Das gefällt ihm. »Weißt du, was ich an dir mag, Lara?«
»Was denn?«
»Du hast ein gutes Herz. Ich weiß, ich kann dir vertrauen.«
Ich nicke. »Das kannst du auch, Andy. Das kannst du wirklich.«
8.
KAPITEL
Einer der traurigsten Romane der neueren Literatur ist – zumindest in meinen Augen – Mary Shelleys Frankenstein. Weil ich nämlich selbst in gewisser Weise dieses Monster bin. Wissentlich oder unwissentlich habe ich über weite Epochen hin Stoff für Alpträume abgegeben. Ich bin die personifizierte Urangst, eine Leiche, die wieder zum Leben erwacht, oder, genauer gesagt: etwas, das sich zu sterben weigert. Ich finde jedoch, daß ich mehr Mensch bin als das Geschöpf bei Shelley, menschlicher als die Nachkommen Arturos. Sicher: Ich bin ein Monster, aber ich kann auch tiefe Liebe empfinden. Allerdings konnte selbst meine Liebe zu Arturo nicht verhindern, daß er uns in einen Alptraum stürzte, aus dem es gar kein Erwachen mehr zu geben schien.
Sein Geheimnis der Verwandlung war ebenso einfach wie unglaublich. Unter New-Age-Anhängern ist es in Mode, Kristalle zu benutzen, um höhere Bewußtseinszustände zu erreichen. Was die meisten dieser Leute nicht wissen, ist, daß ein Kristall bloß die Funktion eines Verstärkers haben kann und daß er äußerst vorsichtig eingesetzt werden muß. Denn all das, was in der Aura, dem psychischen Feld der entsprechenden Person vorhanden ist, wird verstärkt. Haß kann ebenso leicht angekurbelt werden wie Mitgefühl. Allerdings können sich gemeine, bösartige Gefühle eher verbreiten. Arturo besaß eine intuitive Eingebung dafür, welchen Kristall er bei welcher Person einsetzen konnte. Bei den allermeisten lehnte er dieses Vorgehen übrigens kategorisch ab. Denn nur wenige schienen ihm bereit dafür und gefaßt auf derartige hohe Schwingungen. Tragisch nur, daß ihn diese Intuition im Stich ließ, als er ein Fläschchen Blut von mir in den Händen hielt. Leider ließ ihn aber sein Genie dabei nicht im Stich. Denn eines Genies bedurfte es schon, um die Dinge so weit zu treiben, wie er es tat.
Ein durchgeknalltes Genie.
Wenn Arturo bei seinen geheimen geometrischen Anordnungen Magneten und Kupferplatten einsetzte, wurden die Schwingungen der Kristalle, die er über der Person plaziert hatte, in die Aura übertragen. Richtete er beispielsweise einen durchsichtigen Quarzkristall unmittelbar über meinem Kopf ein, bewirkte das bei mir einen tiefen, friedlichen Bewußtseinszustand. Benutzte er denselben Kristall aber bei Ralph, wurde der Junge aufgeregt. In Ralphs Kopf gingen zu viele Dinge vor sich, und er war einfach nicht bereit für Kristalle. Das begriff Arturo. Er war ein Alchemist im wahrsten Sinne des Wortes. Er konnte transformieren, was nicht verändert werden konnte. Seelen ebenso wie Körper.
Arturo glaubte nicht daran, daß der Körper den Geist erschafft. Für ihn war es genau andersherum, und ich bin überzeugt davon, daß er recht damit hatte. Wenn er Einfluß auf eine Aura nahm, veränderte er damit auch die Physiologie des betreffenden Menschen. Er brauchte schlicht und einfach die geeigneten Materialien, um zu verändern, was immer er verändern wollte. Einen fehlerhaften Menschen in einen glorreichen Gott. Eine unfruchtbare Vampirfrau in eine liebevolle Mutter.
Die Möglichkeit, wieder ein Mensch zu werden, war es letztendlich, die mich dazu veranlaßte, ihm mein Blut zu geben. Wieder eine Tochter in den Händen zu halten – was für eine phantastische Vorstellung! Ich ließ mich von uraltem Kummer verleiten. Yaksha hatte mich mit dem Verlust von Rama und Lalita teuer für meine Unsterblichkeit bezahlen lassen. Arturo stellte mir nun in Aussicht, die Hälfte dessen, was ich verloren hatte, wiederzubekommen. Seit viertausend Jahren war es vorbei damit gewesen. Lieber die Hälfte als gar nichts, dachte ich mir. Während ich mein Blut für Arturo in einen goldenen Kommunionskelch fließen ließ, betete ich zu Krishna, er möge es segnen.
»Es ist nicht so, daß ich mein Versprechen breche«, flüsterte ich, ohne jedoch meinen eigenen Worten zu glauben. »Ich will nur diesen Fluch von mir ablegen.«
Ich ahnte nicht, daß Arturo, während ich meinen Gott anbetete, das
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