Der rote Würfel
erkennen kann. Es ist Nacht, doch der Himmel leuchtet. An Stelle der Sonne glitzern unzählige Sterne. Irgendwie kommt mir dieser Ort bekannt vor. Die Luft ist angenehm warm, erfüllt von wohlriechendem Duft. Weit von mir entfernt bewegt sich ein Menschenstrom auf ein Schiff zu, ein riesiges, violettes Raumschiff; beinahe blendend hell gehen göttliche Strahlen von ihm aus. Mir ist, als wüßte ich, daß es bald abhebt und daß ich in ihm sein werde. Doch gibt es vor der Abfahrt noch etwas, was ich mit Gott Krishna klären muß.
Er steht gleich neben mir auf dieser weiten Ebene, die goldene Flöte in der Rechten, eine rote Lotusblüte in der Linken. Er ist einfach gekleidet wie ich auch: in eine lange, blaue Robe, die bis zum Boden reicht. Doch trägt er zudem noch ein Juwel um den Hals: den strahlenden Edelstein, in dem sich das Schicksal jeder Seele spiegelt. Er betrachtet den Himmel und scheint darauf zu warten, daß ich das Wort ergreife. Doch kann ich mich nicht erinnern, worüber wir zuletzt gesprochen haben.
»Ich fühle mich so verloren, Herr«, flüstere ich schließlich.
Er hält den Blick auf die Sterne gerichtet. »Du fühlst dich von mir getrennt.« »Ja. Ich will nicht von dir fortgehen. Ich will nicht auf die Erde.« »Du hast mich nicht verstanden. Du bist nicht verloren. Die ganze Schöpfung
gehört zu mir. Sie ist Teil von mir. Wie kannst du da verloren sein? Dich verwirrt nur das Gefühl, von mir getrennt zu werden.« Während er mich anblickt, wehen seine langen schwarzen Haare im leichten Wind. Aus der Tiefe seiner dunklen Augen heraus schimmern die Sterne. In seinem Blick liegt das Geheimnis der Schöpfung. Sein Lächeln ist so einnehmend, und die Liebe, die er verströmt, überwältigend. »Du bist schon einmal auf der Erde gewesen. Es ist dein Zuhause.«
»Wie ist das möglich?« raune ich vor mich hin, bemüht, mich zu erinnern. Verschwommene Bilder meines Daseins auf der Erde tauchen auf. Ein Ehemann, eine Tochter – ich kann sogar sehen, wie sie lächeln. Doch über ihnen liegt ein dunkler Schatten. Ich erkenne sie aus einer merkwürdigen Perspektive, aus einem Teil meiner selbst heraus, den ich gar nicht mit mir verbunden wußte. Viele Jahrhunderte ziehen an mir vorüber, erstickend voll mit endlosen Tagen und Nächten, mit leidenden Menschen, alles in Blut ertränkt. Blut, das ich vergossen habe. Ich presse die Frage heraus, die sich mir aufdrängt: »Was habe ich getan auf der Erde, Herr?«
»Du wolltest anders sein – und du warst anders. Das ist auch recht so. Diese Schöpfung ist wie eine Bühne, und wir alle spielen eine Rolle darin als Held oder Feigling. Es ist alles maya – Illusion.«
»Aber habe ich… gesündigt?«
Meine Frage scheint ihn zu belustigen. »So etwas ist gar nicht möglich.« Ich blicke auf das startklare Schiff. Es ist fast voll. »Dann muß ich gar nicht
weg von dir?«
Er lacht. »Sita. Du hast mir nicht zugehört. Du kannst gar nicht weg von mir.
Ich bin immer bei dir, selbst dann, wenn du glaubst, auf der Erde zu sein.« Seine
Stimme klingt verändert, ist nun mehr die eines Freundes als die eines Meisters.
»Soll ich dir eine Geschichte erzählen?«
Obwohl ich verwirrter bin als zuvor, muß ich lachen.
»Ja, gerne, Herr«, antworte ich.
Er denkt nach. »Es waren einmal ein Fischer und seine Frau. Die beiden
lebten in einem kleinen Dorf am Meer. Jeden Tag fuhr der Fischer mit seinem
Boot hinaus, während seine Frau daheim blieb und sich um das Haus kümmerte.
Ihr Leben war einfach, aber glücklich. Sie liebten sich sehr.
Es gab nur eines, was die Frau an ihrem Mann auszusetzen hatte: Er aß nur
Fisch. Zum Frühstück, zu Mittag, zum Abendessen aß er immerfort nur das, was
er gefangen hatte. Ganz gleich was sie sonst noch kochen oder backen mochte,
ob Brot oder anderes Gebäck, Reis oder Kartoffeln: Er rührte nichts davon an.
Fisch allein war das, was er essen wollte, sagte er, und so sollte es für ihn auch bleiben. So war er schon von klein auf gewesen und hatte ein Gelübde abgelegt,
das seine Frau nicht begreifen konnte.
Eines Tages wollte die Frau seine merkwürdige Ernährung nicht länger
hinnehmen. Sie beschloß, ihm einen Streich zu spielen und ihm ein Stück Lamm
unter den Fisch zu mischen. Das tat sie geschickt, so daß man nichts merkte.
Verborgen unter den Schuppen des Fischs lag das rote Fleisch. Als der Mann an
diesem Abend nach Hause kam und sich an den Tisch setzte, erwartete ihn sein
Mahl.
Zunächst aß er mit herzhaftem Appetit.
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