Der Rubin der Oger
die keinem anderen Volk auf Nelbor gegeben war. Ihre feinen Züge ließen sie wie übernatürliche Kunstwerke erscheinen. Jedes dieser Geschöpfe verweilte schon länger auf der Welt, als es die Stadt Osberg mit ihren vierhundert Jahre alten Stadtmauern überhaupt gab. Sie hatten Dinge gesehen, die den Menschen allzeit verborgen bleiben sollten, und sie hatten Länder bereist, von denen nur noch Legenden erzählten.
Hagrims ehrfürchtige Gedanken wurden nur durch die Tatsache getrübt, dass ihre äußere Erscheinung durch die vermutlich lange Reise gelitten hatte. Vor seinem inneren Auge sah Hagrim Bilder von Elfen mit langen Gewändern, die mit Goldfäden bestickt waren, mit Edelsteinen besetzte Stirnreifen und Stoffe, die so leicht waren, dass man sie am Körper nicht spürte. So sahen die Elfen in seinen Geschichten aus. Dieses halbe Dutzend elfischer Reiter jedoch war, selbst wohlwollend betrachtet, in Lumpen gehüllt. Einfachste, grob gewebte Stoffe hingen wenig kleidsam an ihnen herab. Ihre langen goldenen Haare wurden von Sackleinenkapuzen verdeckt, und ihr Schuhwerk war so abgenutzt, dass nicht einmal Hagrim mit ihnen hätte tauschen wollen. Die Frage nach edlen Geschmeiden stellte sich gar nicht erst. Der Letzte der Elfen stellte sich in seinen Steigbügeln auf und wandte sich der Menschenmenge zu, welche die Delegation staunend verfolgte. Sein Gesicht zeigte feine Konturen, die Haut war blass, fast weiß, und aus dem langen blonden Haar stachen zwei spitze Ohren heraus. Aus Erzählungen wusste Hagrim, dass sich die Elfen anderen Völkern gegenüber überlegen fühlten und oft arrogant wirkten. Auf den ersten Blick traf dies auch auf diesen Elfen zu, doch dann erkannte Hagrim, dass in seinen leuchtend blauen Augen auch noch etwas anderes lag; etwas wie Verachtung.
Grübelnd schaute Hagrim auf die Menge, die der Delegation folgte. Seine Erzählung musste etwas bieten, das die Zuhörer in Erstaunen versetzen würde. Einen lapidaren Bericht über etwas zu liefern, was die ganze Stadt mit eigenen Augen gesehen hatte, brachte keine Kupfermünze ein. Er musste es schaffen, einen Blick zu erhaschen, der allen anderen verborgen blieb.
Der Reiterzug stoppte vor dem Anwesen von Lord Felton. Die Menschen dahinter drängten sich dicht an dicht, und an ihrer Spitze stand Hagrim. Der Schweif eines Elfenrosses peitschte über seinen heruntergekommenen Umhang.
Hagrim sah an sich herab, an dem schmutzigen Leinenstoff vorbei bis zu den abgewetzten Schuhspitzen. Der Gedanke, über dem er brütete, war genauso verwegen wie brillant; und zugleich einfach. Kurzerhand streifte er seine Kapuze über, senkte den Kopf und verschränkte die Hände in den weiten Ärmeln. Als der Elfen-Abordnung von Lord Feltons Wachen die Tore geöffnet wurden, trottete der Geschichtenerzähler einfach hinterher. Er spürte, wie er sich von dem Mob in seinem Rücken löste.
Offenkundig war er niemandem aufgefallen, und als er es wagte, seinen Blick zu heben, waren bereits vier der Elfen im Haupthaus verschwunden. Die anderen beiden führten ihre Pferde unter Anweisung eines jungen Burschen hinüber in die Stallungen.
»Haha, ein Geniestreich«, flüsterte Hagrim sich selbst zu und rieb sich freudig die Hände.
So unauffällig, wie er gekommen war, verschwand er im Schatten der zahlreichen Säulen des Haupteingangs. Einen Weg ins Innere des Palastes gab es nicht für ihn. Die zwei Wachen am Haupteingang würden sich nicht so leicht täuschen lassen. Ohne Zustimmung von Lord Felton betrat niemand sein Anwesen. Der Ort, den Hagrim aufsuchte, war zwar weitaus weniger spektakulär als das Innere des Anwesens, doch gleichermaßen aufschlussreich. Wenn er im Laufe der Jahre etwas gelernt hatte, dann das, dass ein halb offen stehendes Fenster oft mehr preisgab als der flüchtige Blick in das Schlafgemach einer holden Maid. Nichts war geheimnisvoller und interessanter als Bruchstücke einer Unterhaltung; nicht einmal die Unterhaltung selbst. Es kam darauf an, einige Teile zu hören, andere zu überhören und die restlichen frei zu erfinden, wenn man daraus eine Geschichte spann.
Er hörte Lord Felton, wie er den Gesandten der Elfen von den Neuigkeiten aus Nelbor berichtete. Er erzählte von den Meistern, den Ogern und den Zwergen. In kurzen Zügen lieferte er eine Zusammenfassung der Ereignisse, die in Nelbor stattgefunden hatten, seit die Elfen das Land verlassen hatten. Seine Ausführungen waren klar, exakt und wertfrei, ein Umstand, der ihn als guten
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