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Der Rubin im Rauch

Der Rubin im Rauch

Titel: Der Rubin im Rauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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eine
phantastische Landschaft aus Schluchten, Gipfeln und
furchterregenden Abgründen, deren Tiefe man unmöglich ergründen
konnte. Nur einmal habe ich von solch einer Landschaft gelesen, und
das war in einer Arbeit über den Wahn und die Schrecken der
Opiumsucht.
    Die Wirkung dieses außerordentlichen Anblicks war genauso, wie
der Maharadschah es vorhergesagt hatte: Ich schwankte plötzlich, ein
starker Schwindelanfall überkam mich. Hauptmann Lockhart packte
meinen Arm, und der Maharadschah nahm den Stein lachend wieder
an sich. Der Vorfall war mit einem Scherz zu den Akten gelegt.
    Unser Besuch ging kurz danach zu Ende. Ich sah den
Maharadschah etwa ein Jahr lang nicht mehr und dann erst im Laufe
des schrecklichen Ereignisses, das den Höhepunkt dieser Erzählung
bildet -- ein Ereignis, das mir mehr Schmach und Unglück bringen
sollte, als ich es für möglich gehalten hätte. Möge Gott (falls es einen
Gott gibt und nicht nur eine Heerschar spottender Dämonen) mir
gnädig sein und mir Vergessen gewähren, und möge dies bald
geschehen!
    Das folgende Jahr nach diesem Ereignis war eine Zeit der Omen
und schlimmen Anzeichen -- Vorboten der schrecklichen Katastrophe,
die durch die Meuterei über uns hereinzubrechen drohte; es waren
Zeichen, die wir nicht richtig zu deuten wußten. Es ist momentan nicht
meine Absicht, mich über die Schrecken und Greueltaten der Meuterei
auszulassen. Andere, die der Sprache besser mächtig sind ah ich,
haben die Geschichte dieser Zeit geschildert: ihre Heldentaten, die
wie Sterne erstrahlten unter Szenen gräßlichen Gemetzels. Es genügt
zu erwähnen, daß ich unter den wenigen war, die überlebten, während
Hunderte starben, und mit mir überlebten drei andere, in deren
Schicksal der Rubin weiterhin eine große, bedeutende Rolle spielt. Ich
schreibe nun über die Zeit der Belagerung von Lucknow, nicht lange
vor der Befreiung durch Havelock und Outram.
    Mein Regiment lag in der Stadt in Garnison und...
Sally schaute auf. Der Zug war in einen Bahnhof eingefahren -- sie
sah ein Schild, auf dem CHATHAM stand. Sie machte das Buch zu;
ihr schwirrte der Kopf vor seltsamen Bildern: ein goldenes Bankett,
scheußliche Sterbeszenen und ein Stein, der wie Opium berauschte...
,Drei weitere' hatten überlebt, schrieb der Major, ihr Vater und sie,
kam ihr sofort der Gedanke. Und der dritte?
Sie öffnete das Buch wieder -- machte es aber hastig wieder zu, als
die Waggontür aufging und ein Mann hereinkam. Er war flott
gekleidet: ein heller Tweedanzug und eine auffällige Nadel in der
Krawatte. Er zog vor Sally den Bowler, bevor er sich hinsetzte.
„'n Tag, Miss."
„Guten Tag."
Sie schaute weg, zum gegenüberliegenden Fenster hinaus. Sie hatte
keine Lust auf eine Unterhaltung, und etwas in dem vertraulichen
Lächeln dieses Mannes störte sie. Mädchen aus Sallys
gesellschaftlicher Schicht reisten nicht allein; es machte einen
seltsamen Eindruck und erregte unerwünschte Aufmerksamkeit.
Der Zug dampfte aus dem Bahnhof, und der Mann nahm ein Paket
belegter Brote heraus und begann zu essen. Er beachtete sie nicht
mehr. Sie saß still da, starrte auf die Moorlandschaft hinaus, auf die
Stadt in der Ferne und auf die Masten der Schiffe in den Kais und
Schiffswerften weit entfernt zu ihrer Rechten.
Die Zeit verstrich. Schließlich fuhr der Zug unter das gläserne
Vordach des Londoner Bridge Bahnhofs; das Maschinengeräusch
verebbte, als der Dampf zischend abgelassen wurde, und Echos
hallten wider. Rufe von Gepäckträgern ertönten. Waggons stießen
ratternd aneinander. Sally setzte sich auf und rieb sich die Augen. Sie
hatte geschlafen. Die Abteiltür stand offen.
Der Mann war verschwunden und mit ihm das Buch. Er hatte es
gestohlen und das Weite gesucht.
IM BANNE DES OPIUMS
    Erschrocken sprang sie auf und stürzte zur Tür, aber der Bahnsteig
war überfüllt, und das Einzige, woran sie sich erinnerte, waren der
Tweedanzug und der Bowler des Mannes
-- und davon gab es
Dutzende...
    Sie kehrte ins Abteil zurück; ihre Tasche lag in der Ecke, in der sie
gesessen hatte. Sie bückte sich, um sie aufzuheben -- und bemerkte
dabei auf dem Boden unter der Ecke des Sitzes ein paar Blätter.
    Das Buch war lose gebunden gewesen -- sie mußten herausgefallen
sein, sie hatte sie im Schlaf fallen lassen, und der Dieb hatte sie nicht
bemerkt! Die meisten waren leer, aber auf einem Blatt standen ein
paar Zeilen, die die Fortsetzung von einem anderen Blatt darstellten.

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