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Der Rubin im Rauch

Der Rubin im Rauch

Titel: Der Rubin im Rauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Die Stelle lautete wie folgt:
    ... ein dunkler Platz, unter einem geknoteten Tau. Drei rote Lichter
beleuchten die Stelle gut, wenn der Mond das Wasser anzieht. Du
brauchst es nur zu nehmen. Es ist ein Geschenk von mir an dich, und
auch vor dem englischen Gesetz, ist es dein Eigentum. Antequam haec
legis, mortuus ero; utinam ex animo hominum tarn celeriter memoria
mea discedat.
    Sally, die kein Latein konnte, faltete das Papier, legt es in ihre
Tasche, und dann machte sie sich tief enttäuscht auf den Weg zu Mrs.
Rees.
Währenddessen fand in Wapping eine düstere kleine Zeremonie
statt.
    Einmal am Tag brachte Adelaide auf Mrs. Hollands Geheiß dem
Herrn im zweiten Stock einen Teller mit Suppe. Mrs. Holland hatte
Matthew Bedwells Sucht sehr frühzeitig entdeckt, und da sie nie faul
war, wenn es eine Gelegenheit beim Schöpfe zu ergreifen galt, so
hatte dies jetzt ihre bösartige, alte Neugier mächtig erregt.
    Denn ihr Gast hatte Bruchstücke einer äußerst interessanten
Geschichte zu erzählen. Er phantasierte, abwechselnd schwitzte er vor
Schmerz und faselte von Phantasiebildern, die von den schmutzigen
Wänden auf ihn zuzukommen schienen. Mrs. Holland hörte geduldig
zu, versorgte ihn ein bißchen mit der Droge, hörte wieder zu und
sorgte für mehr Opium als Gegenleistung für Einzelheiten der
Geschichte, die er in seinem Delirium erzählte. Stück für Stück fügte
sich alles zu einem Ganzen zusammen, und Mrs. Holland entdeckte,
daß sie auf einer Goldgrube saß.
    Bedwells Geschichte betraf die geschäftlichen Angelegenheiten der
Schiffahrtsagentur Lockhart und Selby. Mrs. Holland spitzte die
Ohren, als sie den Namen Lockhart hörte; sie hatte so ihr eigenes
Interesse an dieser Familie, und sie war überrascht von diesem Zufall.
Sie merkte, daß man die Geschichte nun unter einem völlig neuen
Aspekt anzusehen hatte: der Verlust des Schoners Lavinia, der Tod
des Eigentümers, die ungewöhnlich hohen Gewinne der Firma aus
dem Chinageschäft und tausend andere Dinge. Mrs. Holland pries die
Vorsehung, obwohl sie nicht abergläubisch war.
    Was nun Bedwell betraf, so war dieser zu hilflos, etwas zu
unternehmen. Mrs. Holland war sich nicht ganz sicher, ob sie das
ganze Wissen, das in seinem Hirn brodelte, aus ihm herausgepreßt
hatte, weshalb sie ihn überhaupt am Leben erhielt, falls man dies
Leben nennen konnte. Sobald es ihr in den Sinn käme, das hintere
Schlafzimmer anderweitig zu brauchen, stand dem Rendezvous von
Tod und Bedwell in der Themse -- im Südchinesischen Meer hatten sie
sich verfehlt -- nichts mehr entgegen. Hangmans Kai war schon eine
günstige Adresse. Adelaide, die eine Portion warmer, schleimiger
Suppe in eine Schüssel geschöpft und ein Stück Brot dazu
abgebrochen hatte, stieg nun die Treppe zu dem hinteren
Schlafzimmer hinauf. Drinnen herrschte Stille, sie hoffte, daß er
schlief. Sie schloß die Tür auf und hielt den Atem an; sie verabscheute
die stickige, dumpfe Luft und die feuchte Kälte, die ihr
entgegenschlugen, als sie eintrat. Der Herr lag auf der Matratze und
hatte eine grobe Decke bis auf die Brust hochgezogen, aber er schlief
nicht. Seine Augen folgten ihr, als sie die Schüssel auf einen Stuhl in
der Nähe stellte.
    „Adelaide", flüsterte er.
„Ja, Sir?"
„Was haste denn da?"
„Suppe, Sir. Mrs. Holland sagt, daß Sie sie aufessen sollen, es würd
    Ihnen guttun."
„Haste 'ne Pfeife für mich?"
„Nach der Suppe, Sir."
Sie sah ihn nicht an; beide sprachen im Flüsterton. Er stützte sich
    auf einen Ellbogen und richtete sich dann unter Schmerzen und
Mühen auf, und sie stellte sich an die Wand, als sei sie völlig
wesenlos -- bloß ein Schatten. Nur ihre riesigen Augen schienen Leben
in sich zu haben.
„Na, dann gib mal her", sagte er.
    Sie reichte ihm die Schüssel, brockte ihm das Brot hinein und wich
dann wieder zur Wand zurück, während er aß. Aber er hatte keinen
Appetit, nach ein paar Löffeln schob er die Schüssel beiseite.
„Mag's nich. Schmeckt überhaupt nich", sagte er. „Wo is die
    Pfeife?"
„Sie müssen's aufessen, Sir, sonst bringt mich Mrs. Holland um",
bat Adelaide. „Bitte..."
„Iß du's doch. Du kannst's brauchen", antwortete er. „Nun mach
schon, Adelaide. Die Pfeife, Mädchen."
    Widerstrebend öffnete sie den Schrank, der, abgesehen von Stuhl
und Bett, das einzige Mobiliar des Raumes darstellte, und nahm eine
lange, schwere Pfeife heraus, die in drei Abschnitte gegliedert war. Er
sah aufmerksam zu, wie

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