Der Rubin im Rauch
die
Haustür, auf dem stand ZIMMER BESETZT. Sie schickte Spione in
alle Stadtteile Londons, um nach Sally und Adelaide zu suchen und
auch gleich noch nach einem Photographen mit blondem Haar, sie
versetzte Mr. Berry in einen Zustand äußerster Nervosität, so daß die
geringste Bewegung von ihr ihn auffahren, auch nur ein Wort von ihr
ihn aufspringen ließ, und wenn sie plötzlich ins Zimmer trat, zuckte er
zusammen wie ein schuldbewußter Schuljunge. Sie trottete vor sich
hin murmelnd und fluchend durchs Haus, sie schlich in ihrem ganzen
Revier umher, von Wapping Old Stairs nach Shadwell Basin, von
Hangmans Kai bis zu Blackwell Railway und heftete ihren stechenden
Blick auf jedes junge Mädchen, das sie sah; sie schlief nicht, sondern
wachte in der Küche und braute sich rabenschwarzen Tee. Mr. Berry
ging auf Zehenspitzen und sprach sehr höflich mit ihr.
Sally kam sich irgendwie verloren vor.
Sie hatte eine Waffe gekauft, aber sie kannte ihren Feind nicht; sie
hatte vom Tod ihres Vaters erfahren, aber sie verstand nicht, warum er
hatte sterben müssen. So vergingen die Tage... Sie spürte, daß sie mit
ihrem ersten Besuch in Cheapside etwas in Gang gebracht hatte, das
jetzt außer Kontrolle war. Wie große, gefährliche Maschinen in einer
dunklen Fabrik kreiste etwas Unheilvolles sie ein, und sie ging wie
blind zwischen ihnen umher... Sie wußte, daß sie mehr erfahren
könnte -- aber auf Kosten eines weiteren Trips in ihren Alptraum. Und
das würde sie nicht verkraften, noch nicht. Es war eine Ironie des
Schicksals. Denn zum ersten Mal hatte sie Freunde, ein Zuhause und
sah einen Sinn im Leben. Mit jedem Tag, der verstrich, fühlte sie sich
sicherer, was ihre Tätigkeit anbetraf, und voller Ideen, was man noch
alles daraus machen könnte. Leider würde die Verwirklichung der
meisten Ideen Geld kosten, und das war nicht vorhanden. Ihres konnte
sie nicht einsetzen, denn sie konnte nur durch Mr. Temple an das Geld
gelangen, und wenn sie zu ihm ginge, würde sie ihre Unabhängigkeit
sofort verlieren.
Es war einfacher, sich über Frederick Gedanken zu machen. Er war
solch eine Mischung aus träger Leichtfertigkeit und
leidenschaftlichem Unwillen, aus der Nachlässigkeit eines Bohemien
und hingebungsvollem Perfektionismus! Frederick müßte jeden
Psychologen interessieren. Sie dachte: Ich muß ihn bitten, mir das
Photographieren beizubringen. Aber später, nicht jetzt, nicht solange
mich dieses Geheimnis in den Fängen hat. Mit Mühe gab sie ihren
Gedanken wieder eine andere Richtung: zurück zur Dunkelheit, zu
Mrs. Holland. Die Gedanken der jungen und der alten Frau kreisten
also umeinander, und wenn dies Menschen geschieht, dann begegnen
sie sich früher oder später.
Am frühen Samstagmorgen entdeckten ein Mann und ein Junge auf
einem Lastkahn, der mit Pferdemist beladen war, einen Leichnam in
jenem Teil des Flusses, der Erith Reach hieß. Mit Hilfe eines
Boothakens hievten sie ihn an Bord und legten ihn förmlich auf ihren
schwimmenden Misthaufen. Der Junge hatte noch nie eine Leiche
gesehen, und er war sehr angetan davon. Er hätte sie gern eine Weile
behalten und sie bewundernden Blicken aus vorbeifahrenden Schiffen
ausgesetzt, aber sein Vater brachte das Boot in Purfleet an Land und
übergab die sterblichen Überreste den staatlichen Stellen. Der
Pferdemist reiste weiter auf die Höfe von Essex.
Jim hatte sich angewöhnt, den größten Teil des Wochenendes in
der Burton Street zu verbringen. Er verliebte sich in Rosa, die ihn
sofort für die Gesellschaft für Stereographische Aufnahmen
verpflichtet hatte. Er spielte Oliver Twist, einen Jungen auf einem
brennenden Deck, Puck, einen Prinzen im Tower mit Frederick als
wenig überzeugendem bösen Onkel. Aber unabhängig davon, wie er
kostümiert oder wie vornehm die Rolle war, seine Gesichtszüge ließen
als einzigen Ausdruck den des fröhlichen Bösewichts zu, nur so wurde
er photographiert. Sie versuchten es einmal mit ,Wann hast du deinen
Vater zuletzt gesehen?' und er sah aus, das behauptete wenigstens
Frederick, als überrede er Parlamentarier zum Kauf von gebrauchten,
spottbilligen Piken.
„Der alte Selby wird vermißt!" sagte er, als er an diesem Samstag
hereinkam. „Er is heut morgen nicht erschienen. Wetten, daß man ihn
um die Ecke gebracht hat. Wetten, daß der alte Tropf vom Warwick
Hotel ihm die Kehle durchgeschnitten hat."
„Halt still", sagte Rosa, den Mund voller Nadeln. Das Studio war
mit Hilfe
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