Der Ruf der Finsternis - Algarad 2
Spiralen ins scheinbar Bodenlose. Tiefer und tiefer, Stufe um Stufe – es kam ihm allmählich so vor, als stiege er in die Gebeine der Erde oder an jenen sagenhaften Ort hinab, wo die verlorenen Seelen in ewigen Qualen lebten.
Die Luft wurde zunehmend stickig und heiß. Bald schon bildeten sich Schweißtropfen auf seinem Gesicht, die Kleider klebten am Leib, und er lechzte nach Kühle und frischer Luft.Er tastete sich an den Steinwänden weiter hinab, dann hörten die Stufen plötzlich auf, und er stolperte. Die Luft roch stickig und modrig und war von einem ständigen Wispern erfüllt. Vorsichtig ging der Comori weiter. Täuschte er sich, oder zeigte sich da ein leichter Lichtschimmer vor ihm?
Langsam setzte er Schritt vor Schritt, um nicht noch einmal zu stolpern, denn das Licht seines Coms war nicht sonderlich hell. Schließlich erreichte er einen kreisförmigen Platz, der etwa dreißig Yard im Durchmesser maß. Osyn sah eine Vielzahl von Gängen, die sternförmig in alle Richtungen abzweigten. In einem der Gänge erkannte er im trüben Licht von Fackeln schwere Eisentüren, die sich zu beiden Seiten schier endlos aneinanderreihten. Das mussten die Zellentüren der Kammern und Verliese sein, in denen die unglückseligen Gefangenen darbten! Am Ende des Ganges, weit entfernt und kaum zu sehen, brannte ein kleines Lagerfeuer.
Osyn wischte sich den Schweiß von der Stirn. Wenn ihn nicht alles täuschte, hatte er den Gefängnistrakt erreicht. Doch in welchem Gang sollte er jetzt nach Lord Iru zu suchen beginnen? Der Dan-Ritter konnte in jeder der zahllosen Zellen sein. Osyn lehnte sich erschöpft gegen die Felswand und dachte nach. Er musste sich etwas einfallen lassen.
7
Trenan lag in Amberons Kammer und schlief tief und t raumlos. Als ihn der plötzliche ohnmachtsgleiche Schlaf überfallen hatte, hatte der Erzmagier das Ritual des Kyn-Doron beendet, die Goldkette mit dem magischen Gegenstand wiederum seinen Hals gehängt und Tenan auf eine schmale Liege gebettet, die am Rande des Raums stand.
Amberon saß tief in Gedanken versunken auf einem Hocker. Was sich eben ereignet hatte, bestätigte seine Vermutung, dass Tenan ein großes Geheimnis in sich trug. Es kam höchst selten vor, dass sich ihm während des Kyn-Doron ein otaron, ein Geistwächter, entgegenstellte und verhinderte, dass er in bestimmte Erinnerungen eintauchte. So blieben ihm Tenans frühe Kindheitstage und seine Herkunft verborgen.
Der Erzmagier erhob sich und ging zur Liege hinüber, wo er sich über den Schlafenden beugte und seine Stirn berührte.
Nach einer Weile schlug Tenan verstört die Augen auf. »Ich bin also doch eingeschlafen ...« Er richtete sich mühsam auf. »Habt Ihr etwas in meinem Geist gesehen?« Dann erinnerte er sich plötzlich. »Da war etwas Seltsames ... es war wie eine Mauer, über die ich nicht klettern konnte. Ich kann mich nicht genau erinnern, jedenfalls wurde ich am Weiterkommen gehindert. Was ist geschehen? Was habt Ihr gesehen, Lord Amberon?«
»Es war in der Tat eine Macht, die dir und mir den Zugang zu deinen Erinnerungen verwehrte«, antwortete der Erzmagier nachdenklich. »Man nennt solche Wesen otaron oder Geistwächter. Sie beschützen etwas, das auf keinen Fall entdeckt werden darf.«
»Geistwächter?« Tenan blickte ihn verständnislos an.
»Nicht jeder trägt einen solchen Wächter in sich«, erklärte Amberon. »Er wird einem Menschen oft mitgegeben, um ihn vor Gefahren aus unsichtbaren Bereichen zu beschützen. Normalerweise ist der otaron gewillt, sein Geheimnis preiszugeben, wenn der Suchende dafür bereit ist. Doch der Wächter in deinem Geist scheint besonders stark und mächtig zusein und hat den Zugang verwehrt. Es ist fast so, als bewirkte ein machtvoller Zauber, dass niemand – am allerwenigsten du selbst – Zugang zu deinen Erinnerungen bekommt. Irgendjemand möchte anscheinend verhindern, dass du dich an die Begebenheiten von damals erinnerst.«
»Aber wer? Meint Ihr, dass Meister Osyn dafür verantwortlich ist?«
Amberon wiegte das Haupt. »Möglich wäre das. Ich bezweifle aber, dass ein einfacher Comori im Stande wäre, einen so starken Abwehrzauber zu schaffen. Und wenn doch – was sollte er damit bezwecken?«
»Unterschätzt meinen alten Meister nicht«, entgegnete Tenan. »Ich glaube, er hat die meisten seiner Fähigkeiten vor mir verborgen gehalten. Er ist mächtiger, als wir glauben.«
»Und du sagst, er wollte dir nie erzählen, woher du stammst und warum du von deinen
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