Der Ruf der Finsternis - Algarad 2
nachvollziehen, ihm selbst wäre es nicht anders ergangen. »Du kannst die Befehle deines Hauptmanns nicht infrage stellen, du schuldest ihm unbedingten Gehorsam. Wenn du dich weigerst, wirst du aus der Palastwache ausgeschlossen.«
Amris starrte mit versteinertem Gesicht vor sich hin. »Du hast recht, es ist sinnlos und würde mir nur schaden.« Er rieb sich müde über die Augen. »Das alles erinnert mich an unser letztes Gespräch in Gondun, als ich nach Meledin fuhr«, sagte er bitter. »Damals warst du es, der sich gegen sein Schicksal auflehnte, aber du hattest wenigstens eine Wahl. Ich hingegen bin dazu verdammt, zu tun, was irgendein Hauptmann bestimmt.«
»Es nützt niemandem, wenn du dich gegen den Befehl auflehnst. Auch für das Schicksal Gonduns spielt es keine Rolle«, sagte Tenan eindringlich.
»Chem, Hergan und all die anderen ... Ich kann nicht glauben, dass sie tot sein sollen. Ich will es nicht glauben!«, stieß Amris mit tränenerstickter Stimme hervor. Er schloss die Augen und holte tief Luft. »Das Schlimmste ist die Ungewissheit über ihr Schicksal. Wie soll ich nur erfahren, was in Gondun geschieht? Es kann Monate dauern, bis die Insel befreit ist und das Heer nach Meledin zurückkehrt.«
Tenan legte ihm die Hand auf die Schulter. »Amris, ich verspreche dir, dass ich einen Weg finden werde, dir Nachrichten zu schicken, damit du weißt, was auf Gondun vor sich geht. Vielleicht kann ich Dualar dazu bewegen, einen der magischen Spiegel zu verwenden, die sich auf jedem der Schiffe befinden. Mir wird schon etwas einfallen.«
Amris vergrub das Gesicht in den Händen und ergab sich in sein Schicksal. »Uns bleibt wohl nichts anderes übrig.«
Die beiden Freunde wussten, dass die Zeit für den Abschied gekommen war. Als sie sich vor einiger Zeit in Gondun Lebewohl gesagt hatten, hatte es die Aussicht auf ein baldiges Wiedersehen gegeben, doch diesmal wurden ihre Wege durch einen Krieg getrennt, dessen Ausgang ungewiss war. Keiner von ihnen konnte sagen, ob und wann sie sich wiedersehen würden.
»Versprich mir, dass du gut auf dich aufpasst, alter Drachenkämpfer!«, sagte Amris.
»Sei vorsichtig!« Tenan war froh, dass der andere seine Tränen nicht sah, als er ihn umarmte.
Sie trennten sich mit schwerem Herzen. Während Amris die restlichen Stunden seines Wachdienstes oben im Turm verbrachte, wanderte Tenan in düsteren Gedanken zurück inden Bezirk des Ordens von Dan. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass ein Schatten über ihnen lag – der Schatten des Todes.
14
Die alte Kontorhalle in dem verlassenen Viertel von Meledin war von einer flackernden Kerze erhellt, die auf dem Boden stand. Sie spendete kaum Licht, doch die Dunkelheit wurde ohnehin von einem unheimlichen roten Leuchten erfüllt. Es drang aus den Stofffalten eines Kleiderbündels, das neben der Kerze lag. In der Luft hing der Geruch nach verbranntem Fleisch.
Ein Junge in schäbigen Kleidern stand am Eingang der Halle und schaute sich ängstlich um. »Herr?« Seine Stimme hallte seltsam laut durch den riesigen Raum. »Mein Name ist Akim, Herr. Ihr habt vorhin am Hafen mit meinem Oheim gesprochen. Er sagte mir, dass ich einen Auftrag für Euch erledigen soll. Hier bin ich nun ...«
Der Junge wartete eine Weile auf Antwort. Doch es tat sich nichts. Die Stille lastete schwer in der Lagerhalle. Eben wollte er sich umdrehen, um diesen unheimlichen Platz wieder zu verlassen, da trat eine große Gestalt in den Schein der Kerze. Akim erschrak und duckte sich in den Eingang. Zuerst konnte er nur die schattenhaften Umrisse sehen, dann erkannte er, dass der Mann eine schwarze Lederrüstung trug und seine Haut dunkel wie Ebenholz war.
»Du kommst spät.« Die tiefe, volltönende Stimme Thut Thul Kanens erfüllte den Raum.
Akim verneigte sich. »Ich bin so schnell hierhergeeilt, wie ich konnte, Herr.«
»Dein Oheim meinte, du seiest der Beste seiner ganzen Diebesbande«, sagte Thut Thul Kanen. »Ich hoffe, dass du dich der Aufgabe gewachsen fühlst, die ich für dich habe.«
Der Junge streckte stolz sein Kinn vor. »Ich bin der Beste! Es gibt nichts, was ich nicht vollbringen kann, Herr!«
Der Hauptmann von Shon lachte kurz auf. »Große Worte für einen kleinen Kerl wie dich. Dein Selbstbewusstsein wirst du noch brauchen. Du scheinst mir aus dem rechten Holz geschnitzt, Junge.«
Er ging zu Akim und fasste ihn mit beiden Händen an den Schultern. Der Junge zog unwillkürlich den Kopf ein. Noch nie hatte er einen derart
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