Der Ruf der Kalahari - Mennen, P: Ruf der Kalahari
Schlips, Anzug und einer dicken roten Schnapsnase. Vor den beiden stand ein großes Glas Schnaps. Darunter hatte Zille notiert: »Da schreiben se inne Zeitung immer gegen Alkohol -̶̶̶̶̶̶̶ Wat brauch’n wir’n Alkohol, wenn wir Schnaps hab’n?«
»Der Grischke wird bei seinem Schnapskonsum noch sein eigener
Kunde«, grinste Jella hinter vorgehaltener Hand. »Dem gehört doch der Sargladen gleich hier um die Ecke!«
Zille schlug vor Lachen die Hand auf den Tisch.
»Was für ein schlagfertiges Gör du bist!«
Jella zuckte mit den Schultern und meinte lakonisch: »Nur eine verstoßene Berliner Baronesse mit irischen Wurzeln und Abitur eben.«
In ihrer Stimme schwang trotz allen Humors eine Spur Verbitterung mit.
»Hast du was dagegen, wenn ich dich porträtiere?«, fragte Zille. Ohne ihre Antwort abzuwarten, hatte er bereits seinen Zeichenstift gezückt und begann in großzügigen Strichen die Konturen ihres Oberkörpers festzulegen. Er zeichnete Jella, wie sie mit aufgestützten Ellenbogen ihm gegenübersaß. Ihr krauses, rotes Haar war mühsam hochgesteckt, wobei ihr eine widerspenstige Locke mitten ins Gesicht hing. Jella versuchte immer wieder, sie durch Pusten aus dem Gesicht zu verbannen, was relativ komisch aussah, weil sie dabei das Kinn vorschob und mal aus dem linken, mal aus dem rechten Mundwinkel blies. Ihre funkelnden, hellgrünen Augen blitzten wie ein Lemontopas. Sie saßen leicht schräg in ihrem länglichen, ovalen Gesicht und gaben ihr ein leicht exotisches Aussehen. Mit sicherem Strich fing Zille das Schillernde, sich ständig Verändernde und auch Unberechenbare in ihrem Äußeren ein, was die Menschen in ihrer Umgebung gleichermaßen anzog, wie auch irritierte.
»Darf ich mal sehen?«, fragte Jella. Nachdenklich betrachtete sie ihr Porträt. »Sehe ich wirklich so... so angriffslustig aus?«
»Nicht angriffslustig, vielleicht eher neugierig, wissbegierig, aber auch ein wenig unzufrieden, wenn ich deinen Mund ansehe!«
Jella hob bedauernd die Schultern. »Was soll ich auch zufrieden sein?«, murmelte sie vor sich hin. »Mein Leben verläuft nicht gerade so, wie ich es mir vorgestellt habe. Im Moment muss ich froh
sein, wenn wir genügend Geld für Miete, Medikamente und Essen verdienen. Aber irgendwann...«, sie machte eine kleine Pause und kratzte trotzig mit den Fingernägeln auf dem Tisch herum. »Irgendwann kommt auch für mich die Zeit, in der ich machen kann, was ich will.«
Zille horchte auf »Was willst du denn machen?«
»Das weiß ich noch nicht genau«, gestand Jella. »Ich weiß nur, dass ich selbst über mein Leben bestimmen möchte. Ich möchte reisen und studieren, um mehr über die Welt zu erfahren. Dinge wie: Warum wachsen Pflanzen so schnell und wir Menschen so langsam? Wozu haben Giraffen so lange Hälse? Woher kommen die Krankheiten in unserem Körper, und wie kann man sie besiegen? Alle Welt denkt, dass diese Fragen nur Männer interessieren. Aber das stimmt nicht! Ich bin ziemlich sicher, dass wir Frauen mindestens ebenso viel leisten können wie ihr Männer.« Sie blitzte den Maler herausfordernd an. Zille hielt ihrem Blick amüsiert stand. »Deine Wünsche für die Zukunft sind in der Tat sehr ungewöhnlich für ein Frauenzimmer«, meinte er. »Normalerweise denkt ein Mädchen deines Alters eher an die Ehe und ans Kinderkriegen. Allerdings...«, er machte eine kleine Pause, »... ist das denn wirklich notwendig? Die Welt ist bisher ganz gut ohne studierte Frauen ausgekommen.«
»Finden Sie es denn nicht ungerecht, wenn nur Männer etwas lernen dürfen?«, empörte sich Jella. »Ich bin sicher, dass wir Frauen nicht dümmer sind als die Männer!«
»Meine Frau ist viel klüger als ich«, gab Zille zu. »Deshalb musste sie aber nicht studieren.«
»Trotzdem sollte sie die Freiheit dazu haben! Sie könnte Großes für die Gesellschaft leisten!«
»Hhm«, Zille fuhr sich durch seinen Bart. »Vielleicht hast du ja recht. Warum sollen Frauen, die den Grips dazu haben, nicht auch studieren dürfen? Eigentlich bin ich gar nicht dagegen, und deine
Aufregung ist auch umsonst, denn wie ich gehört habe, können Frauen selbst hier in Berlin, wo sich der Kaiser noch mehr einmischt, studieren.«
»Aber nur, wenn sie genügend Geld haben«, seufzte Jella traurig. »Und genau da fehlt’s bei mir an allen Enden.«
Zille kratzte sich am Kopf. »Das muss kein Grund sein«, überlegte er laut. »Hast du dich denn schon mal für ein Stipendium
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