Der Ruf der Kalahari - Mennen, P: Ruf der Kalahari
entfernt liegen, und kennen doch die Gedanken des anderen. Denkt an die vorletzte Regenzeit, als Xao so schwer krank geworden war. Debe hat geträumt, dass es seinem
Sternenbruder schlecht ging und dass er Medizin brauchte, weil Gauab ihm die Gesundheit gestohlen hatte. Er machte sich gleich am nächsten Morgen auf und rannte viele Tage und Nächte, um sie ihm zu bringen. Er kam gerade noch rechtzeitig, um ihn zu retten.«
»Eje, eje, ei, ei, ei«, stimmten die Buschmänner zu. Dann schwiegen sie, lauschten auf das Knistern des abbrennenden Holzes und hingen ihren Gedanken nach. Auch Nakeshi, die voller Trauer an Sheshe dachte, zu der die Verbindung nun endgültig unterbrochen worden war. Sie wusste, dass sie ihre Sternenschwester nie wiedersehen würde.
Ein lautes Stöhnen aus einer der Laubhütten riss sie schließlich aus ihrer Versenkung. Sie stand auf, um nach dem Schwerverletzten zu sehen.
Ein Netz von Lügen
Jäh schreckte Jella aus ihrem unruhigen Schlaf auf. Sie schnellte hoch und stellte fest, dass sie schweißgebadet war. Ihr Nachthemd klebte an ihrer Haut, als sei es vorher in Wasser getaucht worden. Die kupferroten Locken hingen schlaff um ihr Gesicht. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in den Raum. Es war schon längst hell. Sie erinnerte sich daran, dass sie erst bei einsetzender Morgenröte eingeschlafen war. Die Trauer und der Schmerz hatten sie immer wieder aufschrecken lassen. Jedes Mal, wenn sie die Augen geschlossen hatte, war Rachel in ihren Gedanken erschienen und hatte ihr mitgeteilt, dass sie jetzt tot sei. Jella hatte versucht, sie zurückzuholen, aber sobald sie versucht hatte, sie festzuhalten, hatte sich Rachels Gestalt in Schemen aufgelöst und war verschwunden. Wieder und immer wieder war das geschehen, bis sie schließlich vom vielen Weinen und der Verzweiflung überwältigt in einen kurzen Schlaf gesunken war. Jella fühlte sich zerschlagen und völlig erschöpft. Es dauerte eine Weile, bis sie ihre Gedanken wieder geordnet hatte. Heute war ein ganz normaler Arbeitstag. Professor Koch und Doktorand Gröhner erwarteten sie im Institut. Auch wenn es schon spät war... sie musste sich wenigstens dort zeigen. Das Leben ging schließlich weiter. Sie stand auf und eilte zu der Kommode mit der emaillierten Blechschüssel und dem Tonkrug mit frischem Wasser. Rasch zog sie das feuchte Nachthemd über ihren Kopf und begann sich mit einem Schwamm und einem Stück Seife den ganzen Körper
zu schrubben. Das kalte Wasser tat ihr gut. Eine feine Gänsehaut überzog ihren Körper und ließ ihre rosafarbenen Brustwarzen zu harten Knötchen werden. Dann nahm sie den Kamm und mühte sich, ihr wild abstehendes Haar einigermaßen zu bändigen. Die ganze Zeit starrte sie dabei in den Spiegel, der als Aufsatz auf der Kommode stand.
»Das Leben geht weiter, Jella!«, sprach sie zu ihrem nackten Konterfei. »Du wirst dich nicht unterkriegen lassen. Das bist du dir und deiner Mutter schuldig!« Der Gedanke an Rachel ließ ihr erneut Tränen in die Augen steigen. Mit einer barschen Bewegung wischte sie sie weg. »Ich werde meinen Weg gehen«, sagte sie trotzig. »Auch ohne fremde Hilfe.«
Langsam kleidete sie sich an. Da sie kein schwarzes Kleid besaß, wählte sie das dunkelgrüne Batistkleid, das ihre schmale Taille vorteilhaft betonte. Dann schnürte sie ihre Stiefel und steckte sich mit langen Haarnadeln ihr Haar hoch.
Die Auseinandersetzung mit ihrem Großvater an Rachels Grab steckte ihr immer noch in den Knochen. War sie nicht doch zu hart mit ihm umgesprungen? Schließlich hatte er sich entschuldigt und ihr beide Hände zur Rückkehr gereicht. Das musste den alten Haudegen eine Menge Überwindung gekostet haben. Mit einem bisschen guten Willen würde der alte Herr mit Sicherheit dazu bereit sein, ihr neues Leben zu akzeptieren. Vielleicht sollte sie ihm und ihr ja doch noch eine Chance geben?
Es klopfte an der Tür.
Jella rechnete mit Mia Grosche, die sich seit der Beerdigung rührend um sie kümmerte. Aber als sie die Tür aufschloss, stand vor ihr ein unbekannter Briefbote und überreichte ihr ein übergroßes Kuvert.
»Wenn Sie bitte gegenzeichnen würden«, sagte er höflich, indem er ihr einen Block mit einer Quittung und einen Stift reichte. Jella tat es und nahm dafür das Kuvert entgegen. Noch während
sich der Briefbote entfernte, suchte sie nach einem Absender. Der Umschlag war prall mit mehreren Schriftstücken gefüllt. Dass der Umschlag von ihrem Großvater kam, wunderte
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