Der Ruf der Kalahari - Mennen, P: Ruf der Kalahari
wären wir heute in Deutsch-Südwestafrika eine glückliche Familie. Mutter wäre nicht krank geworden, und ich wäre keine Waise.« Erneut stiegen glitzernde Tränen in Jellas limonengrüne Augen. Zille saß hilflos neben ihr.
»Warum hat er das nur getan?«, überlegte er. »Welcher Mensch kann das nur wollen?«
Jella schnäuzte sich. »In seinen Augen ist das ganz logisch«, behauptete sie. »Er wusste genau, dass mein Vater, wenn er erfahren würde, dass er eine Tochter hat, alle Hebel der Welt in Bewegung gesetzt hätte, um mich und meine Mutter zu sich zu holen. Dann wäre mein Großvater wieder allein gewesen. Anstatt sich zu versöhnen und über seinen eigenen Schatten zu springen, zog er es vor, uns alle nach seinem Willen zu manipulieren. In seinem Auftrag ließ er diesen Igor Landwein sogar einen Brief fälschen, der angeblich von meiner Mutter stammte. Darin stand, dass sie von einem anderen Mann geschwängert worden und mit ihm an einen unbekannten Ort verzogen sei. Er hat alles zerstört! Selbst wenn ich jetzt meinen Vater ausfindig machen könnte - er würde mir nie glauben, dass ich seine Tochter bin!«
»Du hast ja jetzt immerhin Beweise, die die Schändlichkeit deines Großvaters unwiderlegbar machen.« Zille deutete auf den Stapel Briefe.
»Das ändert nichts an der Tatsache, dass es seit Jahren keine Spur mehr von meinem Vater gibt.«
Das Leben geht weiter
In den nächsten Tagen und Wochen stürzte sich Jella in ihre Arbeit am Institut und in der Destille, sodass ihr nicht viel Zeit übrig blieb, um über ihre Zukunft nachzugrübeln. Und sie wollte es auch gar nicht. Selbst die Erkenntnis, dass ihr Vater möglicherweise noch am Leben war, verdrängte sie und schob sie in den letzten Winkel ihres Bewusstseins. Rachels Tod und das für sie so bittere Intrigenspiel ihres Großvaters hatten sie bis ins Mark erschüttert. Sie fürchtete sich vor noch mehr Enttäuschungen und beschloss, nach vorn zu sehen. Anstatt weiter in der Vergangenheit herumzubohren, wollte sie in die Zukunft sehen und ihre Kraft auf ein mögliches Studium konzentrieren. Professor Koch und seine Mitarbeiter waren mit Jellas Arbeit sehr zufrieden. Sie stellte sich bei den kniffligen Aufgaben am Mikroskop so geschickt an, dass man es bald ihr überließ, schwierige Präparate für anstehende Untersuchungen vorzubereiten. Ihre Geschicklichkeit in handwerklichen Dingen paarte sich mit ihrem immensen Wissensdurst. Sobald sich eine Gelegenheit ergab, löcherte sie die Mitarbeiter am Institut und deren Leiter mit ihren Fragen. Manche Kollegen fürchteten ihren Eifer und wandten sich schnell anderen Aufgaben zu, wenn sie Jella heranbrausen sahen, nur um nicht von der Flut ihrer Fragen überspült zu werden. Professor Koch sah es mit einem wohlgefälligen Schmunzeln - und weil er selber einst eine junge, wissbegierige und gelehrte Frau geheiratet hatte, legte er sich für Jella ins Zeug und erwirkte schließlich eine Gasthörerschaft für
sie an der Friedrich-Wilhelms-Universität. Sie war immer noch keine ordentliche Studentin, aber sie konnte zumindest ihren Wissensdurst stillen. Außerdem hatte Professor Koch ihr versprochen, sich beim Verwaltungsrat für sie einzusetzen. Die Zeichen standen nicht schlecht, dass ihr Studium eines Tages sogar anerkannt werden würde. Als einzige Frau unter vielen männlichen Studenten saß sie an einem Vormittag in der Woche in dem riesigen, halbkreisförmigen Vorlesungssaal und verfolgte fasziniert Professor Kochs Ausführungen über die genaue Erforschung von Infektionen durch Bakterien. Gebannt lauschend erfuhr sie an diesem Morgen, dass die Entdeckung dieser kleinsten Lebewesen nicht das Werk eines Arztes, sondern eines großen Chemikers gewesen war. Louis Pasteur hatte es in herausragender Weise verstanden, die beiden Naturwissenschaften Chemie und Medizin miteinander zu verknüpfen. Der erst vor wenigen Jahren verstorbene Wissenschaftler war nicht nur der größte Kenner der Mikrobiologie seiner Zeit gewesen, sondern er hatte sich auch gefragt, was die Medizin gegen Viren und Bakterien unternehmen könnte. Ihm war es zu verdanken, dass man mittlerweile dazu übergegangen war, Lebensmittel wie Milch durch kurzzeitiges Erhitzen haltbarer zu machen, denn die Hitze tötete die Bakterien. Von noch größerer Bedeutung war, dass es ihm gelungen war, Impfstoffe gegen den Milzbrand-Bazillus, die Tollwut und die Geflügelcholera herzustellen. Er war dabei nach dem Prinzip vorgegangen, Gleiches mit
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