Der Ruf der Kalahari - Mennen, P: Ruf der Kalahari
Tage an. Die Schotten wurden verriegelt, und die Passagiere mussten unter Deck bleiben. Durch diese Maßnahme drang kaum noch frische Luft in die Unterkünfte, und es begann sich überall ein durchdringender Geruch auszubreiten. Es roch nach Erbrochenem, Schweiß, abgestandenem Alkohol und der Angst vor einem Schiffsunglück, die aus den Poren der Passagiere strömte. Manch einer sprach von einem nahenden Schiffbruch oder äußerte schlimme Befürchtungen über die ungewisse Zukunft, die sie in der Ferne erwartete. Jella war froh, dass sie etwas zu tun hatte, was sie von ähnlich düsteren Gedanken ablenkte. Von morgens bis abends war sie auf dem Schiff unterwegs, hangelte sich durch die wankenden, spärlich erleuchteten Schiffsgänge hin zu den verschiedenen Unterkünften und versuchte den Seekranken Linderung zu verschaffen. Ganz selbstverständlich kümmerte sie sich auch um die Patienten der ersten und zweiten Klasse. Allerdings ging es denen aufgrund der komfortableren Umstände und der Tatsache, dass ihre Kabinen höher
und weiter vorn im Bug lagen als das Zwischendeck, wesentlich besser. Der Seegang war oben auf dem Oberdeck und vorn im Bug wesentlich geringer zu spüren. Lisbeth lag nach wie vor apathisch in ihrer Koje und war kaum ansprechbar. Sie jammerte zwar nicht wie die anderen, aber ihr Anblick ließ in aller Deutlichkeit erkennen, wie schlecht es ihr ging. Jella brachte ihr etwas Hühnersuppe, die sie aus der Kombüse geholt hatte, aber ihre Freundin wandte sich nur angewidert ab.
»Es wird jedes Mal schlimmer«, meinte sie leise. »Ich glaube, noch so eine Reise werde ich mir nicht antun. Dieses Mal bleibe ich für immer in Afrika.«
»Ich auch«, flüsterte Jella bestimmt.
Die Hans Woermann passierte das stürmische Kap von La Coruna, umschiffte den Nordwestzipfel Spaniens und kämpfte sich durch die aufgebrachte See an Portugal entlang. Erst in Höhe der westafrikanischen Küste vor Marokko beruhigte sich das Wetter. Die Seekranken erholten sich schnell von ihren Leiden und wagten sich auch bald wieder ans Oberdeck. Das ruhige Wetter war wie eine Erlösung. Doch nicht lange. Schon bald näherten sie sich den Tropen, wo es immer heißer wurde. Jella raffte die Ärmel ihrer Bluse hoch und verfluchte das enge Mieder, das nicht nur einengend, sondern auch wärmend wirkte. Trotzdem stieg ihre Stimmung mit jeder Seemeile, die sie sich ihrer neuen Heimat näherte. Was würde sie dort wohl erwarten? Lisbeth hatte ihr erzählt, dass in Deutsch-Südwest viele unterschiedliche Stämme von Eingeborenen lebten. Die meisten von ihnen waren von Ostafrika her in den Süden gekommen - ungefähr zur gleichen Zeit, als die Weißen Südafrika für sich zu entdecken begannen. Nur die Buschmänner und Hottentotten lebten schon seit Tausenden von Jahren in dieser unwirtlichen Region. Ein Großteil des Landes bestand aus Wüste. An der Westküste war es die Strandwüste der Namib,
die oft neblig verhangen war, weil die kalte Luft vom Benguelastrom vor der Küste auf die heiße Wüstenluft traf und dort regelmäßig kondensierte. Die Küste wurde auch Skelettküste genannt, weil sich an ihren Stränden Unmengen von Gebeinen gestrandeter Wale, Robben und auch Schiffswracks fanden. Die Strömungen waren tückisch, und so manches Schiff war durch Unachtsamkeit oder Stürme an die Küste gespült worden. Auch wenn es den Gestrandeten gelungen sein sollte, lebend an Land zu gelangen, so bedeutete dies längst nicht Rettung, sondern im Gegenteil ein klägliches Ende in der unendlichen Weite der hohen Sanddünen. Eine Laune der Wüste war, dass die Dünen ständig in Bewegung waren und so die Wracks und Gebeine im Laufe der Zeit Meter für Meter ins Landesinnere transportiert hatten.
In Liberia ging die Hans Woermann kurz vor Anker, um etwa zwanzig der sogenannten Kru-Boys an Bord zu holen. Dabei handelte es sich um kräftige westafrikanische Fischer, die sich als Anlandungsspezialisten für die stürmische Küste vor Svakopmund anheuern ließen. Die baumlangen, muskulösen Kerle waren es gewohnt, sich mit ihren Fischerbooten durch die wilde Brandung ihrer Küste zu kämpfen, und hatten sich dabei im Laufe vieler Generationen eine meisterliche Geschicklichkeit im Umgang mit ihren Booten erarbeitet. Die Woermann-Gesellschaft hatte das früh erkannt und nahm für gutes Geld die angesehene Arbeit dieser Männer in Anspruch. Mit launigen Sprüchen und offenem Lachen begaben sich die Schwarzen an Bord. Sie waren äußerst
Weitere Kostenlose Bücher