Der Ruf der Pferde
in Patricias Gedankengänge hineinzuversetzen. Konnte sie tatsächlich verrückt genug sein, so einen Plan durchzuziehen? Oder, anders ausgedrückt: Hatte sie eine andere Möglichkeit zur Rettung von Dallis gesehen? Gab es überhaupt eine andere Möglichkeit?
Dann nickte er. »Ja. Ich denke, das hat sie vor.«
Damian stieß ärgerlich die Luft aus, doch Ethan beachtete ihn gar nicht.
Silas wiegte bedächtig den Kopf und zog an seiner Pfeife. Ethan kannte ihn gut genug, um seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Der alte Mann war äußerst besorgt. Silas kannte die Highlands und wusste nur zu gut, wie rau und unwirtlich sie waren. Falls Patricia sich dorthin gewandt hatte, war ihr Leben in Gefahr, das las Ethan aus Silas’ Miene.
»Kann übel ausgehen«, sagte Silas dann auch und sah Ethan fragend an. »Hat sie denn Erfahrung in den Bergen?«
Ethan hob die Schultern. »Keine Ahnung. Nach dem, was sie ihren Eltern zufolge an Kleidung mitgenommen hat, kann ich es mir aber, ehrlich gesagt, nicht vorstellen.«
»Na prima.« Damian schüttelte den Kopf. »Sie dachte wohl, das ist nichts anderes als ein bisschen Campen, oder was?« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Verdammt, ist sie denn vollkommen verrückt geworden? Den Hintern sollte man ihr versohlen! Falls sie überhaupt lebend zurückkommt!«
Ethan verstand seinen Zorn. Auch er fühlte tiefe Besorgnis, wenn er daran dachte, wie Patricia oben in den Highlands umherirrte. Und er wusste, dass schon einige Wanderer umgekommen waren, weil sie mit unzureichender Ausrüstung in schlechtes Wetter gerieten. Selbst im Hochsommer konnte es in den höheren Lagen unter Umständen Schnee geben und nachts sanken die Temperaturen fast immer bis nahe an den Gefrierpunkt.
»Wissen ihre Eltern denn Bescheid?«, fragte Silas und Ethan war klar, dass er die Gefahr meinte, in der sich Patricia befand.
»Keine Ahnung«, erwiderte Ethan knapp. »Sie haben aber die Polizei informiert und die sucht sie schon im weiten Umkreis. Hier auf dem Hof waren sie doch auch, wenn ich das recht mitgekriegt habe. Und sogar die Edinburgher Dienststellen sind eingeschaltet, für den Fall, dass Patricia nach Hause unterwegs ist.«
»Wissen sie denn überhaupt, was du befürchtest?«
»Ich hab es den Macintoshs gegenüber angedeutet, ja. Und die haben es der Polizei auch weitergegeben.«
»Na, hoffentlich warst du deutlich genug«, stellte Damian fest. »Andererseits, was soll die Polizei eigentlich ausrichten, wenn du recht hast mit deinem Verdacht? Einen Suchtrupp in die Berge schicken?« In seiner Stimme lag Ironie.
»In solchen Fällen setzt sich die Polizei automatisch mit den Rangern und dem Rescue Service in Verbindung«, warf Silas ein. »Die haben Erfahrung mit so was. Sicher sind sie schon unterwegs, um das Mädel zu suchen.«
»Wenigstens etwas«, sagte Damian, doch es war ihm anzusehen, dass er sich davon nicht allzu viel versprach.
Auch Ethans Angst um Patricia wuchs immer mehr, je länger er über das Ganze nachdachte. Es war Irrsinn, was sie da vorhatte, und es bestand die Gefahr, dass sie diesen Irrsinn mit ihrem Leben bezahlte.
»Wo will Patricia denn eigentlich genau hin?«, wandte er sich an Silas. »Sie sagte, du hättest ihr von den wilden Ponys erzählt – weiß sie denn überhaupt, wo sie sie suchen muss?«
Silas schüttelte nur den Kopf. »Das weiß noch nicht mal ich so genau. Es sind nicht mehr viele und sie leben irgendwo im Norden, mal hier und mal dort. Wenn das Mädel sie finden will, muss sie wirklich Glück haben.«
»Na klasse«, murmelte Damian. »Sind ja bloß ein paar tausend Quadratmeilen, kann ja nicht so schwer sein, sie da zu entdecken.«
Sie schwiegen alle drei. Auf dem Stallvorplatz herrschte trotz des trüben Wetters das übliche Getümmel von Ponys und Kindern nach dem letzten Ritt des Tages und Damian warf immer wieder wachsame Blicke hinüber. Sonny knabberte ein Stückchen von ihnen entfernt die Blätter von einigen Büschen, an denen Ethan ihn angebunden hatte.
Ein friedliches Bild, beinahe wie immer.
Doch nichts war wie immer, das fühlte Ethan schmerzlich.
Schließlich hielt er es nicht mehr aus.
»Verdammt«, rief er, »wir können doch nicht hier warten, bis etwas passiert ist!«
»Und was willst du tun?«, erkundigte sich Damian. »Du kannst ihr ja nachreiten, wenn du Lust hast.«
»Tolle Idee, wirklich!« Ethan sah ihn wütend an. »Und woher soll ich wissen, wo sie langgeritten ist? Bin ich Old Shatterhand oder
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