Der Ruf der Pferde
heim zu Mami und lässt dir erst mal einen Flicken draufnähen, bevor du hier große Töne spuckst.« Sie warf einen Blick auf Sonny. »Und nimm ein paar Reitstunden. Dann lernst du, wie man mit einem Pferd umgeht, ohne ihm das Maul kaputt zu machen.«
Das war zu viel.
Ethan gab keine Antwort, stieg wieder in den Sattel und trieb Sonny an.
»Laird, bei Fuß!«, stieß er zwischen den Zähnen hervor.
Und blind vor Wut galoppierte er davon. Nach einem Moment des Zögerns folgte ihm der Hirschhund.
Patricia blickte ihm nach, bis er hinter dem Hügelkamm verschwunden war.
Was für ein eingebildetes Arschloch!
Zuerst hatte sie ihn für einen erwachsenen Reiter gehalten, er war hoch aufgeschossen und die Sonne hatte sie geblendet, sodass sie sein Gesicht nicht deutlich erkannt hatte. Ihren Irrtum hatte sie allerdings schnell erkannt, als er sie so unverschämt angeschnauzt hatte.
Ein junger Kerl, höchstens zwei oder drei Jahre älter als sie, und er führte sich auf, als sei er hier der Herr Großgrundbesitzer persönlich.
Privater Sitzplatz, so ein Schwachsinn! Was bildete der Typ sich eigentlich ein? Sie durfte sich ja wohl hinsetzen, wo sie wollte, dies war ein freies Land!
Patricia schnaubte beinahe so wie ein Pferd. Der Tag war ihr von einem Moment auf den anderen verdorben.
Dabei hatte sie heute zum ersten Mal Lust zu einer Wanderung verspürt. Anfangs verbrachte sie ihre Zeit mit Lesen in Mrs Denchs Garten. Da die Wirtin jedoch zu glauben schien, sie langweile sich so allein und laufe außerdem Gefahr, zu verhungern oder zu verdursten, wenn sie ihr nicht alle halbe Stunde etwas hinausbrachte und dazu gleich noch ein ausgiebiges Schwätzchen servierte, war Patricia nach zwei Tagen entnervt geflüchtet. Sie vermochte der Frau nicht klarzumachen, dass es sich um ihre eigene freie Entscheidung handelte, die Eltern und Ivan nicht zum Fischen oder Rudern auf dem nahe gelegenen See zu begleiten. Und dass sie gerne in Ruhe lesen wollte, statt sich von Mrs Dench ausfragen oder sich Geschichten über deren erwachsenen Sohn aufhalsen zu lassen. Dessen Karriere bei der Royal Air Force sowie die Schar Enkelkinder, die er ihr bisher beschert hatte, interessierte Patricia nun wirklich nicht die Bohne. Sie kam daher zu dem Schluss, dass es besser sei, das Feld zu räumen, bevor sie platzte und dann womöglich etwas Dummes sagte.
Aus diesem Grund hatte sie an diesem Morgen ihr Buch in einen Rucksack gepackt und sich gezielt in die entgegengesetzte Richtung des ihr seit ihrer Ankunft pausenlos angepriesenen McNair-Gestüts gewandt. Der im morgendlichen Dunst blau schimmernde Berg hatte interessant ausgesehen. Ein Blick auf die Wanderkarte ihrer Eltern hatte ihr verraten, dass er Sgurr na Lapaich hieß. Dort würde sie hinlaufen.
Eigentlich machte es sogar Spaß, einfach so querfeldein draufloszumarschieren. Patricia stieg stetig bergan, die Sonne im Gesicht, und sie fühlte sich belohnt, als ihr irgendwann auffiel, dass die lästigen Mückenschwärme offenbar im Tal geblieben waren. Als sie Durst bekam, erfrischte sie sich mit ein paar Schlucken eiskalten Quellwassers direkt aus einer Felsspalte am Berg und wunderte sich, wie gut es schmeckte. Und gerade als sie müde wurde, entdeckte sie dann diese sonnige, windgeschützte Mulde unter dem Hügelkamm und beschloss, hier ihre Mittagspause einzulegen.
Sie zog das Buch aus dem Rucksack und betrachtete stirnrunzelnd das dicke Sandwichpaket, das ihr Mrs Dench noch im Weggehen als Wegzehrung aufgenötigt hatte. Na, vielleicht später, im Moment verspürte sie keinen Hunger, das Frühstück war wie immer mehr als reichlich ausgefallen. Stattdessen kramte sie einen Kaugummi aus der Seitentasche des Rucksacks, kuschelte sich gemütlich ins warme Gras der Mulde und schlug das Buch auf.
Wie lange sie so gesessen und gelesen hatte, bis sie dann das Hufgetrappel unvermittelt aus ihrer Versunkenheit riss, wusste Patricia nicht.
Dass dieser Zwischenfall ihr die Stimmung gründlich verdarb, merkte sie allerdings nur zu gut. Als Ethan verschwunden war, wandte sich Patricia wieder ihrem Buch zu, aber sie konnte sich nicht mehr konzentrieren.
Verdammt, dachte sie, was für ein Blödmann! Mister Großkotz beim Abreiten seines Jagdreviers! Obwohl Patricia sich bemüht hatte, das Pferd zu ignorieren, war ihr natürlich der schöne, gut gepflegte Hunter aufgefallen und sie wusste, dass diese Rasse hier immer noch fürs Jagdreiten eingesetzt wurde. Wahrscheinlich fand der Typ Spaß daran,
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