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Der Ruf der Steine

Der Ruf der Steine

Titel: Der Ruf der Steine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Goshgarian
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Pulli über die Wiese laufen. Oh, lieber Gott, ich danke dir.
    »Hey, Dad, schau mal!«
    Peter klammerte sich an das Geländer der Veranda und nickte nur stumm. Er wusste, dass er schreien würde, wenn er den Mund auch nur öffnete. Benommen sah er zu, wie Andy an der Barrikade entlanglief, und registrierte den Schatten des kleinen Körpers. Der Junge war gesund und munter, und über ihm flatterte der Phoenix fröhlich in der blauen Luft.
    Peter verletzte seine Handfläche an einem rostigen Nagel. Die Haut blutete. Schmerz durchzuckte ihn. »Andy.« Seine Stimme war nur ein heiseres Flüstern.
    »Schau, Dad!«
    Er sah Andy vor sich, aber gleichzeitig schmerzten seine blank liegenden Nerven. »Wunderbar«, keuchte er.
    Die Erinnerung an Andy in seinem Blut brannte in seinem Kopf. Er sah das Bild vor sich, er konnte es riechen. Es war einfach zu wirklich … und er hatte nicht das Gefühl, sich alles nur eingebildet zu haben.
    »Schau her, Dad«, rief Andy.
    »Ich bin gleich wieder da!«
    Mit dröhnendem Schädel rannte er ins Haus zurück.
    Jesus! Es roch noch immer nach Tod. Übelkeit stieg in ihm auf.
    Er hielt die Luft an – bitte, Gott, nein – und stieß die Küchentür auf.
    Nichts. Alles war verschwunden. Der Körper, das Blut, die vielen Fliegen. Alles.
    Gott, ich danke dir.
    Nein, nicht alles.
    Das Messer war noch immer da. Und Lambkin – das Messer war durch den Hals der Puppe tief in den Boden gedrungen.
    Peter hätte sich lieber selbst die Kehle durchgeschnitten, bevor er die Hand gegen Andy erhoben hätte.
    War er imstande, seinen Sohn umzubringen? Der Gedanke allein war schon so abstoßend, dass er sich weigerte, ihn zu denken. Aber nichts anderes zeigte diese Vision: Er war offenbar fähig, seinen eigenen Sohn zu töten.
    Die nächsten zwei Stunden verbrachte er stumm in einem Schaukelstuhl auf der Veranda und flickte Lambkin, während Andy vor dem Haus spielte. Ihm war, als ob Hornissen sein Gehirn zerstochen hätten. Während seine Finger mechanisch arbeiteten, überlegte sein geschundener Kopf, wie nahe er dem Wahnsinn gewesen war – er hatte das Abgleiten genau gespürt und das Auftauchen der schrecklichen Vision vorausgeahnt. Nie zuvor hatte er etwas Ähnliches erlebt – nicht einmal in der Nacht, als Linda gestorben war. Damals hatten ihn Schmerz und Verzweiflung überfallen, aber keine Wahnvorstellungen. Dies jedoch war eine andere Dimension.
    Er mühte sich um eine vernünftige Erklärung: Was er auf dem Küchenboden erblickt hatte, war nur eine Halluzination gewesen. Eine Halluzination, die zwar alle Sinne ansprach, aber trotzdem nicht durch einen äußeren Reiz erzeugt wurde – nur ein Wachtraum, der wie jeder andere Traum ausschließlich symbolische Bedeutung hatte. Lambkin war die Metapher für Andy, das Messer stand für sein elterliches Versagen und war nicht als Mordwaffe zu interpretieren. Peter war kein gewalttätiger Mensch. Gewiss, er war temperamentvoll und schoss auch manchmal aus der Hüfte, aber schon rein äußerlich gehörte Gewalt nicht zu seinem Habitus. Auch der Wurf des Messers in den Fleischerblock war nichts weiter als dummes männliches Imponiergehabe gewesen – und das hatten Linda und er nur zu genau gewusst.
    Sein schlechtes Gewissen war der Grund für alles. Im Bestreben, besonders fürsorglich zu sein, hatte er übertrieben, und sein Schuldbewusstsein hatte den Alptraum auf dem Küchenboden inszeniert. Eine heilsame Warnung, die er nicht überhören durfte! Zeitweise Amnesie war in seinen Augen die einzige Erklärung dafür, dass er Lambkin in einer Art Wachschlaf in die Küche gebracht hatte. Genau. Während Andy draußen gespielt hatte, hatte er ausgepackt, die Puppe in die Küche getragen, das Messer aus der Scheide gezogen und die Warnung an sich selbst inszeniert. Offenbar war die Vorstellung, dass er Andy durch Nachlässigkeit gefährden könnte, für sein Unterbewusstsein so unerträglich, dass es zu dieser indirekten Warnung Zuflucht genommen hatte.
    Ein schizoides Psychodrama. Angelehnt an Andys Ausruf – »Pfui! Was stinkt hier so?« –, dabei hatte der Junge lediglich den fauligen Geruch des Meeres wahrgenommen. Nichts weiter. Keine Ausgeburt der Fantasie, sondern ganz leicht erklärlich.
    Während Andy mit dem Drachen herumrannte, schaukelte Peter gemächlich hin und her und flickte das Spielzeug seines Sohnes. Aber die Angst vor einer erneuten Überraschung nagte an ihm – und die leise Furcht, dass er womöglich noch zu weit

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