Der Ruf der Steine
nach. Plötzlich packte ihn der Alptraum, dass der Junge nur auf den Drachen schauen und abstürzen könnte. Als Andy nur schreiend herumhopste und nicht hörte, verlangte Peter, dass er sich hinsetzen und den Drachen im Sitzen fliegen lassen sollte, bis die restlichen Sachen ausgepackt und eingeräumt waren.
»Aber, Daaaad«, jammerte der Junge.
»Nichts da, ich habe ausdrücklich gesagt, dass du nicht so nahe an die Kante laufen sollst.«
Andy schwieg, aber man sah ihm an, wie sehr er darauf brannte, den Drachen steigen zu lassen.
»Rühre dich nicht von der Stelle – ansonsten verschwindet der Drachen.«
Andy stöhnte vor Zorn und stampfte mit dem Fuß auf. »Du bist gemein! Warum machst du das?«
Für Sekunden war Peter verunsichert. Für einen Sechsjährigen war dieser Protest zwar normal, aber trotzdem traf ihn die Bemerkung. Er war alles andere als gemein. »Weil ich Angst vor der steilen Klippe habe. Deshalb. Wenn du noch einmal zu nah an die Kante gehst, werde ich dich im Haus einsperren.« Vielleicht konnte er ja ein Seil und ein paar Stöcke auftreiben, um eine Art provisorischen Zaun zu errichten.
»Ich will aber nicht in das feuchte Haus!« Andy zog eine Schnute, als ob er gleich losheulen würde.
»Verdammt!«, brummte Peter leise vor sich hin und fühlte, wie Wut in ihm hochstieg. Er musste das Haus lüften und überprüfen, ob Herd und Kühlschrank funktionierten. Und dann musste er noch die Grabungsquadrate auf der Klippe festlegen. Das würde einige Stunden in Anspruch nehmen, aber er wollte die Arbeiten unbedingt erledigt wissen, bevor die Leute von Earthwatch ankamen. »Hör zu, Andy: Die Kante ist wirklich gefährlich. Es geht dort senkrecht bis ins Wasser hinunter! Setze dich hin, bis ich zurückkomme.«
»Nein! Das macht keinen Spaß! Du bist gemein!«
»Es tut mir Leid, aber ich will doch nur verhindern, dass du abstürzt.«
»Ich stürze schon nicht ab!« Andy schnitt eine Grimasse und wandte den Blick ab.
»Lass den Drachen fliegen, wo du jetzt bist.«
»Nein!« Der kleine Mann drehte sich um und stampfte auf den Rand der Klippe zu.
Peter sah rot. »Verdammt!« In einem einzigen Satz sprang er von der Veranda herunter und lief auf Andy zu. Eine höchst unüberlegte Reaktion, dachte er. Linda hätte sicher besser reagiert. Wie immer. Aber manchmal war Nachsicht fehl am Platz!
Als Andy sah, dass Peter auf ihn losstürzte, ließ er sich fallen. Die Drachenschnur war fest um seine Hand gewickelt. Peter stieß ihn mit dem Finger an. »Wenn ich dich auch nur in der Nähe der Kante erwische, werde ich dir den Hintern versohlen! Kapiert?«
Keine Reaktion. Nur die mürrische Miene. In dieser Sekunde mahnte ihn eine innere Stimme: Peter, reiß dich zusammen! Du verlierst die Beherrschung. Irgendetwas macht dich verrückt.
5
Peter hätte am liebsten zugeschlagen. Noch nie hatte er die Hand gegen seinen Jungen erhoben – schon den Gedanken fand er unerträglich. Aber in dieser Sekunde juckte es ihn in den Fingern. »Hast du mich verstanden?«
Andys Unterlippe bebte.
»Hast du?«
»Ja«, wimmerte der Kleine. Tränen stürzten ihm aus den Augen. »Ich hasse den verdammten Drachen!«, rief er und warf die Schnur in die Luft.
Sofort packte der Wind den Vogel, und im nächsten Moment rannte Peter in Riesensätzen hinterher. Einen guten Meter vor der Kante hechtete er auf das Ende der Schnur zu und erwischte den Drachen, bevor er von der Klippe geweht wurde. Andy konnte nur mit Mühe ein Grinsen unterdrücken.
Peter kehrte zu ihm zurück. »Du hältst das offenbar für witzig, was? Würde es dir gefallen, wenn dein Daddy von der Klippe herunterfiele? Ja?«, schrie er. »Scheißlustig, was?«
Heiße Wut stieg in ihm auf. Er wollte Andy schon packen und schütteln, bis er sich nicht mehr regte, doch in diesem Moment fiel das Gesichtchen des Kleinen in sich zusammen.
Und in derselben Sekunde war der Drang vorüber.
Mit der Schnur in der Hand stand Peter dümmlich herum, und sein kleiner Sohn schluchzte in seine dicken Fingerchen.
Peter fühlte sich erbärmlich.
Er ist sechs Jahre alt, sechs kümmerliche Jahre, und macht manchmal noch ins Bett. Natürlich fand er es komisch, wenn sein Daddy wie ein Schachtelteufel durch die Luft sprang, um die Schnur zu schnappen. Das war einfach komisch! Und du hast nicht gelacht. Ganz schön mies. Sekunden zuvor war dein Sohn glücklich – doch du hast ihn zum Weinen gebracht und den Drachen getötet! Den ganzen Tag hat er sich darauf
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