Der Ruf der Steine
ein Strahl aus seinem Unterbewusstsein Andy vertrieben hätte. Womöglich in den Tod. Sein Unterbewusstsein hatte diesen Plan gefasst. Genügend Hinweise hatte es ja gegeben – angefangen mit der Vision auf dem Küchenboden.
Beim Umrunden der Klippe rutschte er auf den moosbewachsenen Felsen aus. Der Atem pochte in seiner Kehle, als er den Blick auf die Wasserfläche richtete und dabei verzweifelt hoffte, keinen kleinen Körper in blauroten Sachen in den Wellen auf und nieder tanzen zu sehen. Alles war so grausam folgerichtig. Wilde Wut war in ihm hochgeschossen, und Andy hatte das gespürt und war wie betäubt in den Tod gegangen.
Aber die Wasserfläche war leer.
Trotzdem sind es nicht meine Gedanken gewesen, dachte Peter.
Doch eine innere Stimme unterbrach ihn: Wessen Gedanken denn sonst? Das Kind hat die Liebe deines Lebens getötet. Du kannst ihm nicht verzeihen. So einfach ist das.
In Peters Kopf herrschte schwärzeste Nacht. Du lässt zu, dass Schuldgefühle deinen Verstand umnebeln, tadelte er sich. Du machst ihn doch nicht für Lindas Tod verantwortlich, und seinen Tod willst du erst recht nicht. Das kann nicht sein. Das bist nicht du! Du liebst ihn doch über alles.
»Andy?« Weshalb hörte er das Rufen denn nicht? Es war doch erst wenige Minuten her. Vielleicht drei oder vier. Wie weit konnte ein Kind in dieser Zeit gehen? Er musste sie einfach hören.
Als er die Klippe fast umrundet hatte, blieb er plötzlich stehen. Vielleicht war Andy ja doch zur anderen Seite gegangen. Hastig sprang er über die Steine zurück, über die er soeben geklettert war.
»Peter.« Connie kam ihm entgegen. »Lass uns lieber auf der Klippe nachsehen.«
Ein vernünftiger Gedanke. Schließlich konnte Andy ja auch in den Wald gelaufen sein. Plötzlich wandte er sich jedoch wieder zurück und stand einen Augenblick ganz still.
»Was ist los?«, fragte Connie.
»Pssst.« Er stützte sich gegen sie. Im ersten Moment dachte er an einen Windstoß. Oder einen Vogelruf.
»Jetzt höre ich es auch«, sagte Connie.
Ein leiser Schrei.
»Daddiiiii.« Schwach, erstickt und weit entfernt.
»Woher kommt das?«
Verwirrt blickten sie in alle Richtungen. »Wo, zum Teufel, steckt er nur?«
Es hörte sich an, als ob es von oben käme. Die Sonne blendete ihn, als seine Augen die Klippe absuchten. Nichts. Dann hörte er es wieder. Das Rufen kam aus dem Berg, direkt aus dem Gestein. Als ob Andy aus dem Berg nach ihnen riefe.
Jesus! Vielleicht hatte er hinaufzuklettern versucht und war im unteren, sandigen Teil verschüttet worden.
»Andy, wo bist du?«
»Daddiiii.«
Im nächsten Moment sprang Peter in weiten Sätzen der Stimme nach und umrundete die Klippe. Er entdeckte eine Art Höhle und davor eine verrostete Schiebetür, die den Eingang teilweise abdeckte – als ob man drei oder vier Meter über der Wasseroberfläche eine Garage in den Fels gebaut hätte. Durch die vorspringende Klippe war Peter die Höhlung bisher entgangen.
»Daddy, hier drinnen.«
Peter kletterte über die Felsen und einige Wellenbrecher aus Beton. Connie hielt sich dicht hinter ihm.
»Andy, ich komme«, rief Peter. »Geht es dir gut?«
»Daddiii.« Der Kleine weinte.
Peter erklomm eine Mauer und überquerte einen schmalen Weg. Die eiserne Schiebetür war nur so weit zurückgeschoben, dass ein kleiner Kerl wie Andy sich gerade durchquetschen konnte. Peter stieß sie bis zum Anschlag auf und legte die Mündung eines Gangs frei.
»Andy, wo bist du?« Sie betraten den Gang.
»Hilf mir«, drang Andys Stimme aus tiefster Dunkelheit zu ihnen empor.
Ohne Taschenlampe würden sie nicht weit kommen.
»Bist du verletzt?«
Ein kurzes Zögern und dann: »Ich kann nichts sehen. Mir ist kalt.«
»Damit können wir leben«, meinte Connie.
Nur ganz selten hatte Peter seinen Sohn so ängstlich jammern hören. Da war kein Irrtum möglich.
»Wir kommen!«, rief Connie. »Bleib, wo du bist, und rede mit uns, damit wir dich finden können. Okay?«
»Okay«, kam es mit zittriger Stimme zurück. »Ich habe meine Taschenlampe verloren.«
Andy trug stets eine kleine Taschenlampe in seinem Rucksack mit sich herum.
»Was ist das für ein Bauwerk?«, fragte Connie, während sie tiefer hineingingen.
»Wahrscheinlich eine Anlage aus dem Bürgerkrieg«, sagte Peter. »In solchen Höhlungen waren die Kanonen zur Verteidigung des Hafens stationiert.« Eine Lafette und die metallene kreisförmige Schiene, auf der die Kanonen gedreht werden konnten, waren noch
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