Der Ruf der Steine
er das Gefühl, dass seine Träume wieder erwachten.
Die Luft vibrierte, als ob sie elektrisch geladen wäre. Die leichte Brise schmeckte rauchig. Die Sterne funkelten intensiv wie nie, und am östlichen Himmel hing ein blutroter Mond. Eine Nacht für Poeten und Songschreiber. Bei jedem Schritt kamen ihm neue Verse in den Sinn.
Don’t go around tonight.
Well, it’s bound to take your life.
In ein paar Minuten fielen ihm mindestens ein Dutzend Lieder über den Mond ein – von There’s a Moon Out Tonight und Moon of Love bis zu dem altbekannten Moon River.
I see the bad moon arising.
I see trouble on the way.
Blue Moon von den Marcels, sogar Stagger Lee – alles Texte über den Mond und über die Liebe. Doch der Song von Jackies Creedence-Clearwater-Revival-CD kehrte immer wieder.
I see earthquakes and lightnin’.
I see bad times today.
Don’t go around tonight.
Well it’s bound to take your life.
Die Worte dröhnten durch seinen Kopf. I hear the voice of rage and ruin .
Er versuchte die Zeilen mit anderen Texten zu übertönen, summte den einen oder anderen Song, bis er schließlich lauthals jeden Refrain grölte, der ihm in den Sinn kam.
Hope you got your things together.
Hope you’re quite prepared to die …
Guter Gott, warum hörte das denn nicht auf? In voller Lautstärke brauste die Musik durch seinen Kopf. Er begann zu laufen – immer nah am Saum der Wellen entlang –, stolperte über Berge von verrottendem Tang und zermatschte alles unter seinen Schritten.
One eye is taken for an eye .
Was er auch tat – er hörte immer dieselben Sätze. Am Ende des Strands angekommen, schnappte er völlig durchnässt nach Luft. In seinem Kopf dröhnte der Refrain:
T HERE ’ S A BAD MOON ON THE RISE
THERE ’ S A BAD MOON ON THE RISE
THERE ’ S A BAD MOON ON THE RISE
THERE ’ S A BAD MOON ON THE RISE
THERE ’ S A BAD MOON ON THE RISE
THERE ’ S A BAD MOON ON THE RISE …
»Guter Gott!«, schrie er.
Da war es vorbei.
Absolute Stille. Nichts regte sich. Er stand direkt am Fuß der Klippe.
Er stützte sich gegen einen größeren Felsen. Sein Hemd war ein kalter Gipsverband. Er ruhte sich einige Minuten aus, bis er sich wieder ganz unter Kontrolle hatte. Ein Whirlpool, dachte er. Nur ein kleiner Whirlpool in meinem Kopf. Ein erneuter Anschlag auf seine Standfestigkeit – wie der Gesang der Sirenen, die Odysseus auf dem Heimweg verführen wollten.
Aber wie erklärte sich das nagende Schuldgefühl? Das nagende Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben?
Wahrscheinlich verdankte er das Connies Vorhaltungen, sagte er sich. Du bist ein guter Vater. Du liebst deinen Sohn. Was ist schon dabei, wenn man einmal etwas abwesend und schroff ist? Im Augenblick beschäftigen dich großartige, wichtige Dinge. Wichtiger, als du es dir je hättest träumen lassen, auch wichtiger als diese plötzlichen Heimwehanfälle deines Sohnes. Vielleicht machst du ihn in der Tiefe deiner Seele, ganz tief drinnen, wohin das Sonnenlicht nicht reicht, doch für Lindas Tod verantwortlich. Aber das ist nicht verwerflich, sondern nur natürlich. Schließlich könnte Linda heute noch leben, wenn er gehorcht hätte.
Er stieg auf die Klippe hinauf, die verlassen und still vor ihm lag. Kein Kreis von Gemeindemitgliedern, keine hysterisch schreienden Kinder, keine brennende Hexe.
Natürlich nicht. Heute war er schließlich wach. Hellwach. Alles war klar. Keine brüllenden Refrains mehr. Nichts. Er hatte alles im Griff und war bereit.
Der Mond hatte sich in grelles Orangerot verfärbt.
Er musste nicht lange überlegen. Er wusste genau, was er wollte. Den ganzen Abend hatte er darüber nachgedacht. Mindestens seit sechs Stunden dachte er an nichts anderes. Es war ziemlich unorthodox – aber zum Teufel damit! Das war schließlich das gesamte Unternehmen. Irgendjemand hatte den Regler wieder aufgedreht. Die Luft knisterte.
Rauch. Der Geruch drang direkt in sein Gehirn. Aber diesmal war der Geruch angenehm, ohne die beißende Schärfe.
Sorgfältig entfernte er die Planen. Der Sand war noch warm. Nachdem er die Planen gefaltet und verstaut hatte, ging er zum Bagger. Der Schlüssel steckte. Er kletterte ins Führerhaus und startete den Motor. Sofort brüllte er auf.
Der Hebel vibrierte in seiner Hand. Als er ihn zu sich zog, hob sich die Gabel wie der Rüssel eines Elefanten. Ganz automatisch glitten seine Hände über die Instrumente und Hebel, als ob er sein Leben lang nichts anderes getan hätte. Faszinierend,
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