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Der Ruf der Steine

Der Ruf der Steine

Titel: Der Ruf der Steine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Goshgarian
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Tür.
    Andy schlief tief und fest. Lambkin hielt er am Fuß gepackt. Peters Bett war unberührt. Irgendwann in der Nacht hatte Andy offenbar das kleine Nachttischchen zwischen den Betten beiseite gerutscht und die Betten näher zusammengeschoben. Der kleine Reisewecker neben dem Kopf des Jungen summte. Es sah Andy nicht ähnlich, dass er den Weckton verschlief.
    Peter stellte das Summen ab. Dann sank er auf sein Bett und sah Andy beim Schlafen zu. Das Messer in seiner Hand fühlte sich klebrig an. Orangefarbenes Sonnenlicht drang durch die Gardinen ins Zimmer und belebte die Züge des Jungen. Wie sehr er doch Linda ähnlich sah. Das schwarze Haar, die federzarten Augenbrauen, die aufgeworfenen Lippen und die großen, feucht schimmernden Augen. Sein eigenes Erbteil war weit weniger ausgeprägt. Im Grunde hatte der Kleine nur das Profil von ihm. Eine Weile studierte er Andys Züge, bis sein Blick auf das Ohr fiel. Eine feste, pinkfarbene Spirale, die sich in einem winzigen Punkt verlor. Wie ein kleiner Wirbelwind, dachte er. Ja, sein eigenes Ohr sah genauso aus. Sein Blick wanderte weiter zur Wange und zum Kinn. Faszinierend, wie fest und zugleich zart Kinderhaut war. Ohne Falten, Pickel oder Narben. Nur straffe, butterweiche Haut mit winzigen Härchen. Wie die Haut eines Pfirsichs.
    Als ob Peters Daumen ein Eigenleben führte, strich er plötzlich über die Schneide und prüfte die Klinge. Sie war scharf wie ein Rasiermesser.
    Zwei haarfeine Falten zogen sich quer über Andys Hals von einem Ohr zum anderen. Peter sah genauer hin und bemerkte einen zarten Staubfilm in der Rille und einige Schweißperlchen. Selbst mitten im Winter war Andys Pyjama am Hals immer feucht – der Tau der Träume, wie Peter das nannte. So etwas kam von nächtlichen Märchenträumen, erklärte er seinem Sohn. Sein Blick fiel auf Andys Kehle. Ja, er sah deutlich, wie der Pulsschlag unter der Haut vibrierte. Er dachte an das kleine Herz dicht unter der Oberfläche und fragte sich, wie oft es wohl in diesem sechseinhalbjährigen Leben schon geschlagen hatte. Vermutlich ließ sich das ziemlich genau errechnen. Wie oft es noch schlagen würde, bevor es endgültig stillstand?
    Tu es.
    Seine Hand hob das Messer. Verwundert sah er es an. Es war sein Messer, aber seine Hand war es nicht.
    Eine Sekunde lang schoss ein Gedanke gleißend hell wie ein Blitz durch dichten Rauch. Was, um alles in der Welt, tue ich, fragte sein Verstand. Was tue ich? Plötzlich sah er von einer höheren Warte, wie er mit hoch erhobenem Messer neben seinem schlafenden Sohn saß und ihn mit dem Tod bedrohte. Ein irrer Moment, fern vom normalen Leben, fern von seiner Geschichte und allen seinen Idealen. Das bin nicht ich.
    Ungläubig starrte er auf das Messer.
    Was geht hier vor?
    »Die Toten beneiden die Lebenden.«
    Aber Linda konnte das doch unmöglich wollen!
    Seine Hand sank auf sein Knie. Guter Gott. Das bin nicht ich. Nicht ich. Er presste den Daumen gegen die Schneide und fühlte, wie die Düsternis von seinem Kopf Besitz ergriff, sich in alle Gehirnwindungen und Höhlungen drückte und seine Denkfähigkeit auslöschte.
    Linda, flüsterte sein Kopf.
    Seit du zum ersten Mal deinen Fuß auf diese Insel gesetzt hast, war sie stets bei dir – sie hat dich verändert, dich verrückt gemacht, dich gegen die anderen Menschen beeinflusst, dir Vorurteile, Wut und unglaubliche Gelüste eingeflößt. Wie damals in der Nacht mit Connie. Wie bei den Zusammenstößen mit Andy. Wie jetzt. Lasse sie nicht in dich hinein, denn sie vergiftet dich. Aber warum? Eines passte nicht zum anderen. Es machte alles keinen Sinn. Linda würde das doch niemals wollen! Nicht ihr eigenes Kind!
    Sie wird versuchen, Ihren Kopf zu beherrschen und Sie Dinge tun zu lassen, die Sie später bereuen könnten.
    Aber nicht mit Andy. Er sah auf seinen Sohn hinunter, auf das süße Kindergesichtchen. Wieder flüsterte die Stimme in seinem Kopf: Geh fort, solange noch Zeit ist. Pack deinen Sohn und kehre nach Hause zurück. Andy bewegte sich, und sofort flammte Peters Kopf wieder auf.
    Tu es.
    Sein Kopf brannte, dass es ihm den Atem nahm.
    Los .
    Es war unglaublich, aber seine Hand hob sich, gegen seinen Willen. Verständnislos starrte er sie an.
    Los .
    Ein einfacher Schnitt quer über die Kehle. Sonst nichts. Das war nicht weiter schwer.
    Los! schrie sie.
    Blut quoll aus den verletzten Adern an Andys Hals.
    Andy in einem See aus Blut und überall Fliegen.
    JETZT!
    Ein Kreis aufrecht stehender Steine, eine

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