Der Ruf Der Trommel
er hat sie nicht persönlich gekannt.«
Er lächelte mir freundlich zu.
»Und das allein sagt mir schon, daß das Mädchen eine Fremde war«, beobachtete Jocasta. »Farquard kennt die Leute, die am Fluß und in der Stadt leben, genausogut, wie ich meine eigenen kenne. Sie ist niemandes Tochter und niemandes Dienstmädchen.«
Sie stellte ihre Tasse ab und lehnte sich mit einem Seufzer im Sessel zurück.
»Es wird schon in Ordnung kommen«, sagte sie. »Iß nur auf, Junge, du mußt am Verhungern sein.«
Jamie starrte sie einen Moment lang an, die Toastscheibe unberührt in seiner Hand. Er beugte sich vor und ließ sie auf den Teller fallen.
»Ich kann nicht sagen, daß ich im Augenblick großen Appetit habe, Tante Jocasta. Von toten Mädchen bekomme ich Bauchgrimmen.« Er stand auf und strich über seine Rockschöße.
»Sie mag niemandes Tochter oder Dienstmädchen sein - aber im Augenblick liegt sie im Hof und lockt die Fliegen an. Ich wüßte gern ihren Namen, bevor ich sie beerdige.« Er machte auf dem Absatz kehrt und schritt hinaus.
Ich trank den restlichen Tee aus und stellte die Porzellantasse mit einem leisen Klirren ab.
»Tut mir leid«, sagte ich entschuldigend. »Ich glaube, ich habe auch keinen Hunger.«
Jocasta regte sich nicht, und ihr Gesichtsausdruck blieb unverändert. Als ich das Zimmer verließ, sah ich, wie sich Myers von seiner Chaiselongue herüberbeugte und zielsicher nach dem letzten Brötchen angelte.
Es war fast Mittag, als wir das Lagerhaus der Krone am Ende der Hay Street erreichten. Es stand etwas oberhalb der Stadt am Nordufer des Flusses und hatte sein eigenes Pier zum Verlassen. Im Augenblick schien es kaum Bedarf für eine Wache zu geben, denn nichts regte sich in der Nähe des Gebäudes außer ein paar blaßgrünen Schmetterlingen, die sich unbeeindruckt von der drückenden Hitze emsig in den dichten, blühenden Büschen abmühten, die das Ufer säumten.
»Was wird hier gelagert?« fragte ich Jamie, während ich neugierig an dem massiven Gebäude hochsah. Die riesige, zweiflügelige Tür war geschlossen und verriegelt, und ein einzelner, rotberockter Wachtposten stand reglos wie ein Zinnsoldat davor. Neben dem Lagerhaus stand ein kleineres Gebäude, auf dem eine englische Flagge schlaff in der Hitze hing; vermutlich war dies das Reich des Sergeanten, den wir suchten.
Jamie zuckte mit den Achseln und strich sich eine vorwitzige Fliege von der Augenbraue. Trotz der Bewegung des Wagens hatten wir mit zunehmender Tageshitze mehr und mehr Fliegen angezogen. Ich schnüffelte vorsichtig, doch ich roch nur einen leisen Hauch von Thymian.
»Alles, was die Krone für wertvoll hält. Pelze aus dem Hinterland, Vorräte für die Marine - Pech, Teer und Terpentin. Aber die Wache steht wegen des Alkohols hier.«
Zwar braute jedes Wirtshaus sein eigenes Bier, und jeder Haushalt hatte seine Rezepte für Apfelcidre und Kirschwein, doch die hochprozentigeren Spirituosen waren der Krone vorbehalten: Brandy, Whisky und Rum wurden in kleinen Mengen und unter schwerer Bewachung in die Kolonie importiert und für teures Geld unter dem Siegel der Krone verkauft.
»Im Moment ist ihr Vorrat wohl nicht sehr groß«, sagte ich und deutete auf den einzelnen Wachtposten.
»Nein, die Alkohollieferungen kommen einmal im Monat von Wilmington den Fluß herauf. Campbell sagt, sie nehmen jedesmal einen
anderen Wochentag, um das Risiko von Raubüberfällen zu verringern.«
Er sprach geistesabwesend, und zwischen seinen Augenbrauen stand eine kleine Falte.
»Meinst du, Campbell hat uns geglaubt? Daß sie es selbst getan hat?« Unwillkürlich warf ich einen flüchtigen Blick hinter mich in den Wagen.
Aus Jamies Kehle drang ein schottischer Laut der Verachtung.
»Natürlich nicht, Sassenach, der Mann ist kein Narr. Aber er ist ein guter Freund meiner Tante; er wird uns keine Schwierigkeiten machen, wenn es nicht sein muß. Wir wollen hoffen, daß die Frau niemanden hatte, der Krach schlagen könnte.«
»Ziemlich kaltblütig von dir«, sagte ich leise. »Bei deiner Tante habe ich noch gedacht, du würdest anders fühlen. Aber du hast wohl recht - hätte sie jemanden gehabt, wäre sie jetzt nicht tot.«
Er hörte die Bitterkeit in meiner Stimme und sah zu mir herab.
»Ich will ja nicht pietätlos sein, Sassenach«, sagte er sanft. »Aber das arme Kind ist tot. Ich kann nicht mehr für sie tun als für eine anständige Beerdigung sorgen, ansonsten muß ich mich um die Lebenden kümmern, aye?«
Ich
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