Der Ruf Der Trommel
Verteidigung des Gejagten: in der Dunkelheit versteckt liegen wie eine Maus oder ein Kaninchen. Nun, ich mußte sowieso zurück, um meine Schuhe zu holen.
Widerstrebend ließ ich die letzten Reste von Wärme hinter mir und kehrte zu dem umgestürzten Baum zurück. Als ich hineinkroch, sah ich den Fleck, der sich hell von dem dunkleren Boden in der Ecke abhob. Ich legte meine Hand darauf und fühlte nicht meine weichen Ledermokassins, sondern etwas Hartes, Glattes.
Noch bevor mein Gehirn das Wort heraussuchen konnte, hatte mein Instinkt erfaßt, was für ein Gegenstand das war, und ich zog die Hand zurück. Einen Moment lang saß ich mit klopfendem Herzen da. Dann übermannte die Neugier meine atavistische Furcht, und ich begann, den sandigen Lehm wegzuschaufeln, der ihn umgab.
Es war tatsächlich ein Totenschädel, komplett mit Unterkiefer, obwohl die Kinnlade nur noch durch getrocknete Ligamentreste in Position gehalten wurde. Ein Fragment eines gebrochenen Halswirbels klapperte im Foramen magnum.
»›Wie lange liegt wohl einer in der Erde, eh er verfault?‹« murmelte ich, während ich den Schädel in meinen Händen hin und her drehte. Der Knochen war kalt und feucht und leicht angerauht von der Feuchtigkeit, der er ausgesetzt gewesen war. Das Licht war zu schwach, um Details zu sehen, doch ich konnte die großen Wölbungen über den Augenbrauen fühlen und den glatten Schmelz der Schneidezähne. Wahrscheinlich ein Mann, und zwar kein alter; die meisten Zähne waren noch vorhanden und nicht übermäßig abgenutzt - zumindest soweit ich das mit meinem tastenden Daumen feststellen konnte.
Wie lange? Acht bis neun Jahr, sagte der Totengräber zu Hamlet. Ich hatte keine Ahnung, ob Shakespeare irgend etwas von Gerichtsmedizin verstand, doch seine Einschätzung kam mir nicht unwahrscheinlich vor. Also über neun Jahre.
Wie war er hierhergekommen? Gewaltsam, antwortete mein Instinkt, obwohl auch mein Gehirn sich dem kurz darauf anschloß. Ein Kundschafter konnte zwar an einer Krankheit sterben, an Hunger oder Erschöpfung - diesen Gedankengang verdrängte ich entschieden, wobei ich mich bemühte, meinen knurrenden Magen und meine feuchten Kleider zu ignorieren -,doch würde er dann nicht unter einem Baum verscharrt enden.
Die Cherokee und Tuscarora beerdigten ihre Toten, das stimmte, doch nicht so, allein in einem Tal. Und auch nicht in Einzelteilen. Es war der gebrochene Wirbel gewesen, der mir sogleich verraten hatte, was sich zugetragen hatte: Seine Ränder waren zusammengepreßt und der Knochen glatt durchtrennt, nicht zersplittert.
»Da konnte dich wohl jemand überhaupt nicht ausstehen, was?« sagte ich. »Hat sich nicht mit dem Skalp begnügt, sondern gleich den ganzen Kopf genommen.«
Was die Frage aufwarf - war der Rest von ihm ebenfalls hier? Ich rieb mir beim Nachdenken mit der Hand über das Gesicht. Schließlich hatte ich nichts Besseres vor; vor Tagesanbruch würde ich nirgendwo hingehen, und die Wahrscheinlichkeit, daß ich schlafen würde, war mit der Entdeckung meines neuen Kameraden ziemlich geschrumpft. Ich legte den Schädel vorsichtig auf die Seite und begann zu graben.
Es war jetzt völlig dunkel, doch im Freien ist selbst die dunkelste Nacht selten ohne Licht. Der Himmel war immer noch mit Wolken verhangen, die eine beträchliche Menge Licht abstrahlten, selbst bis in meine flache Grube.
Der sandige Boden war weich und ließ sich leicht umgraben, doch nachdem ich ein paar Minuten gekratzt hatte, waren meine Fingerknöchel
und -spitzen wundgescheuert. Ich kroch nach draußen und suchte mir einen Stock zum Graben. Ich stocherte noch ein bißchen herum und stieß auf etwas Hartes; kein Knochen, dachte ich, und auch kein Metall. Ein Stein, entschied ich und befühlte das schwarze Oval. Nur ein Flußkiesel? Ich glaubte es nicht; die Oberfläche war sehr glatt, doch es war etwas hineingeritzt; irgendeine Glyphe, obwohl mein Tastsinn nicht ausgereift genug war, um mich erkennen zu lassen, was es war.
Weiteres Graben förderte nichts mehr zutage. Entweder war der Rest von Yorick nicht hier, oder er war so tief begraben, daß ich keine Chance hatte, ihn zu entdecken. Ich steckte mir den Stein in die Tasche, hockte mich auf meine Fersen und rieb mir die sandigen Hände am Rock ab. Zumindest war mir von der Bewegung wieder warm geworden.
Ich setzte mich wieder hin, hob den Schädel auf und hielt ihn auf dem Schoß. Gruselig, wie er war, bedeutete er doch so etwas wie Gesellschaft, eine
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