Der Ruf Der Trommel
auf den Gegenwert der Zeit noch nicht existenter Ernten und einen haarsträubenden Ausflug nach Cross Creek erfordert.
Dort hatte Jamie all seine Bekannten aufgesucht, von jedem eine kleine Geldsumme geliehen und war mit diesem Geld dann in die Hafenkneipen gegangen, wo er es in drei schlaflosen Nächten geschafft hatte, beim Spiel seinen Einsatz zu vervierfachen - und dabei nur
knapp einem Messerattentat entkommen war, wie ich erst später erfuhr.
Ich war sprachlos gewesen beim Anblick des langen, gezackten Risses in der Brust seines Rockes.
»Was -?« hatte ich schließlich gekrächzt.
Er hatte kurz mit den Achseln gezuckt und plötzlich sehr müde ausgesehen.
»Es spielt keine Rolle«, hatte er gesagt. »Es ist vorbei.«
Dann hatte er sich rasiert, sich gewaschen, war ein weiteres Mal zu allen Plantagenbesitzern gegangen und hatte jedem der Männer sein Geld mit einem kleinen Leihzins zurückgezahlt, so daß uns genug blieb für Maissaat, ein zusätzliches Maultier zum Pflügen, eine Ziege und ein paar Schweine.
Ich stellte ihm keine weiteren Fragen, flickte ihm nur den Rock und sah zu, daß er heil ins Bett fand, als er nach der Rückzahlung des geliehenen Geldes heimkam. Doch ich saß lange Zeit neben ihm und sah zu, wie sich die Falten der Erschöpfung in seinem Gesicht im Schlaf ein wenig glätteten.
Nur ein wenig. Ich hatte seine Hand hochgehoben, schlaff und schwer im Schlummer, und hatte die tiefen Linien seiner glatten, schwieligen Handfläche wieder und wieder nachgezeichnet. Wie viele Leben lagen jetzt in diesen Furchen?
Mein eigenes. Das seiner Siedler. Fergus’ und Marsalis, die gerade aus Jamaica zurückgekehrt waren und jetzt für Germain aufkommen mußten, einen pausbäckigen, blonden Charmeur, der seinen hingerissenen Vater fest in seiner dicken kleinen Hand hatte.
Bei diesem Gedanken blickte ich unwillkürlich aus dem Fenster. Ian und Jamie hatten ihnen geholfen, ein kleines Blockhaus nur eine Meile von unserem entfernt zu bauen, und manchmal kam Marsali uns abends besuchen und brachte das Baby mit. Es wäre schön, sie jetzt zu sehen, dachte ich sehnsüchtig. So sehr ich Brianna manchmal vermißte, der kleine Germain war mein Ersatz für das Enkelkind, das ich niemals im Arm halten würde.
Ich seufzte und vertrieb den Gedanken mit einem Achselzucken.
Jamie und Duncan waren mit dem Whisky zurückgekehrt; ich konnte hören, wie sie sich bei der Pferdekoppel unterhielten.
Ihre Stimmen waren locker, und alle Spannung zwischen ihnen war verflogen - für den Augenblick.
Ich breitete die dünne Lage Gerste fertig aus und stellte sie zum Trocknen an eine Ecke der Feuerstelle. Dann ging ich zum Schreibtisch, schraubte das Tintenfaß auf und öffnete das Krankenbuch. Es
dauerte nicht lange, die Details der Geburt des jüngsten Muellersprößlings festzuhalten; die Wehen hatte lange gedauert, waren ansonsten aber ganz normal gewesen. Die Geburt selbst war komplikationslos verlaufen; das einzig Ungewöhnliche war die Glückshaube des Kindes gewesen…
Ich hielt im Schreiben inne und schüttelte den Kopf. Immer noch abgelenkt von meinen Gedanken an Jamie, hatte ich meine Aufmerksamkeit abschweifen lassen. Petronellas Kind war nicht mit einer Glückshaube geboren worden. Ich erinnerte mich deutlich daran, wie sein Scheitel sichtbar wurde, die Vulva ein glänzender roter Ring, der sich eng um einen kleinen, schwarzbehaarten Fleck schloß. Ich hatte ihn berührt, den winzigen Puls gespürt, der dort schlug, genau unter der Haut. Ich erinnerte mich lebhaft daran, wie sich die feuchten Daunenhaare unter meinen Fingern anfühlten: wie die feuchte Haut eines frisch geschlüpften Kükens.
Es war der Traum, dachte ich. Ich hatte in der Erdgrube geträumt und die Ereignisse der beiden Geburten vermischt - dieser und Briannas. Es war Brianna, die mit einer Glückshaube geboren worden war.
Ein glückliches Vorzeichen, so eine Glückshaube - sagten die Schotten -,sie gewährte im späteren Leben Schutz vor dem Ertrinken. Und manche Kinder, die mit einer Glückshaube geboren wurden, waren mit der Gabe des zweiten Gesichts gesegnet - obwohl ich mir nach meinen Begegnungen mit solcherart begabten Menschen die Freiheit herausnahm zu bezweifeln, daß diese Fähigkeit ein reiner Segen war.
Ob es ein Glück war oder nicht, Brianna hatte jedenfalls niemals Anzeichen jenes seltsamen keltischen »Wissens« gezeigt, und das war mir nur recht. Ich wußte genug über meine eigene persönliche Form des zweiten
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