Der Ruf Der Trommel
Gesichtes - das sichere Wissen, daß sich Dinge ereignen würden - um niemandem die damit verbundenen Komplikationen zu wünschen.
Ich blickte auf die Seite vor mir. Ohne es richtig zu merken, hatte ich die groben Umrisse eines Mädchenkopfes gezeichnet. Eine gerundete breite Linie wirbelnden Haars, die bloße Andeutung einer langen, geraden Nase. Darüberhinaus war sie gesichtslos.
Ich war keine Künstlerin. Ich hatte gelernt, klare, klinische Zeichnungen anzufertigen, akkurate Bilder von Gliedmaßen und Körpern, doch mir fehlte Briannas Gabe, die Linien zum Leben zu erwecken. So, wie er da stand, war der Entwurf nicht mehr als eine Gedächtnisstütze; ich konnte ihn ansehen und mir ihr Gesicht in Gedanken
ausmalen. Mehr zu versuchen - ihr Gesicht auf dem Papier heraufzubeschwören - würde bedeuten, das zu ruinieren, zu riskieren, daß ich das Bild verlor, das ich von ihr im Herzen trug.
Und würde ich sie leibhaftig herbeschwören, wenn ich es könnte? Nein. Das würde ich nicht tun; ich stellte sie mir tausendmal lieber in der Sicherheit und Bequemlichkeit ihrer eigenen Zeit vor, als sie mir herbeizuwünschen in diese rauhe, gefährliche Zeit. Doch das bedeutete nicht, daß sie mir nicht fehlte.
Zum ersten Mal empfand ich etwas Mitgefühl mit Jocasta Cameron und ihrer Sehnsucht nach einem Erben; jemandem, der zurückblieb und ihren Platz einnahm, der davon zeugte, daß ihr Leben nicht umsonst gewesen war.
Draußen vor dem Fenster stieg das Zwielicht aus Feld und Wald und Wasser. Man behauptet, daß die Nacht sich senkt, aber eigentlich stimmt das nicht. Die Dunkelheit stieg auf, füllte erst die Talmulden, überschattete dann die Berghänge und kroch unmerklich an Baumstämmen und Pfosten hoch, während die Nacht den Boden verschlang und dann aufstieg, um sich mit dem tieferen Dunkel des sternenübersäten Himmels zu vereinen.
Ich saß da, starrte aus dem Fenster und sah zu, wie sich das Licht auf den Pferden in der Koppel veränderte: statt zu verblassen, wandelte es sich, so daß alles - die gebogenen Hälse, die runden Hinterteile, selbst einzelne Grashalme - sich nackt und klar abzeichnete und die Wirklichkeit für einen kurzen Augenblick befreit war von den täglichen Illusionen von Sonne und Schatten.
Ohne sie zu sehen, fuhr ich die Linien der Zeichnung mit dem Finger nach, wieder und wieder, während die Dunkelheit aufstieg und die Wirklichkeiten meines Herzens klar vor mir im Dämmerlicht standen. Nein, ich wünschte mir Brianna nicht hierher. Doch das bedeutete nicht, daß sie mir nicht fehlte.
Irgendwann beendete ich meine Notizen und saß dann einen Augenblick lang still da. Ich hätte mich an das Abendessen machen sollen, das wußte ich, doch nach meinem Abenteuer nagte immer noch die Erschöpfung an mir und raubte mir die Willenskraft, mich zu bewegen. All meine Muskeln schmerzten, und der Bluterguß an meinem Knie pochte. Alles, was ich wirklich wollte, war, ins Bett zurückzukriechen.
Statt dessen ergriff ich den Totenschädel, den ich neben meinem Krankenbuch auf den Tisch gelegt hatte. Ich glitt sanft mit dem Finger über das runde Cranium. Es war ein durch und durch makaberer
Tischschmuck, das mußte ich zugeben, doch ich hing dennoch an ihm. Ich hatte Knochen immer schon schön gefunden, egal, ob von Mensch oder Tier: nackte, elegante Überreste des Lebens, das auf seine Grundlagen reduziert wurde.
Plötzlich erinnerte ich mich an etwas, woran ich seit vielen Jahren nicht mehr gedacht hatte; eine kleine, dunkle Kammer in Paris, die hinter dem Laden eines Apothekers verborgen war. Die Wände mit wabenartigen Regalen überzogen, in jedem Fach ein polierter Schädel. Viele verschiedene Tierarten, von Spitzmäusen bis hin zu Wölfen, Mäusen und Bären.
Und während meine Hand auf dem Kopf meines unbekannten Freundes lag, hörte ich Maître Raymonds Stimme so deutlich in meiner Erinnerung, als stünde er neben mir.
»Zuneigung?« hatte er gesagt, als ich die hohe Wölbung eines Elchschädels berührte. »Es ist ungewöhnlich, so etwas für einen Knochen zu empfinden, Madonna.«
Doch er hatte gewußt, was ich meinte. Ich wußte, daß es so war, denn als ich ihn fragte, wozu er all diese Schädel hatte, hatte er gelächelt und gesagt: »Sie leisten mir bei meiner Arbeit Gesellschaft.«
Und ich wußte auch, was er meinte, denn der Herr, dessen Schädel ich hier hatte, hatte mir ebenfalls Gesellschaft geleistet, und zwar an einem sehr dunklen und einsamen Ort. Ich fragte mich nicht
Weitere Kostenlose Bücher