Der Ruf Der Trommel
hierzulassen, bei Jamie - bei uns?
So erschreckend ich diesen Gedanken fand, konnte ich ihn doch nicht mit dem Mann in Verbindung bringen, den ich in Jamaica kennengelernt hatte. Ich mochte gute Gründe haben, John Grey nicht zu mögen - es ist schließlich immer etwas schwierig, gegenüber einem Mann mit einer erklärten homosexuellen Leidenschaft für den eigenen Ehemann wohlmeinende Wärme zu empfinden -,doch ich mußte zugeben, daß ich keine Spur von Rücksichtslosigkeit oder Grausamkeit in seinem Charakter gefunden hatte. Im Gegenteil, ich hatte den Eindruck gehabt, daß er ein einfühlsamer, großherziger und ehrenhafter Mann war - zumindest, bis ich von seinen Gefühlsregungen gegenüber Jamie erfuhr.
Konnte es sein, daß etwas vorgefallen war? Eine Bedrohung für den Jungen, die Lord John um seine Sicherheit bangen ließ? Es konnte doch wohl niemand die Wahrheit über William herausgefunden haben - niemand kannte sie, außer Lord John und Jamie. Und ich natürlich, fügte ich nachträglich hinzu. Ohne die offenkundige Ähnlichkeit - ich unterdrückte erneut den Drang, mich umzudrehen und ihn anzustarren - gab es keinen Grund, warum jemand Lunte riechen sollte.
Doch wenn man sie Seite an Seite sah - nun, ich würde sie in Kürze
Seite an Seite sehen. Der Gedanke verursachte mir ein seltsames, hohles Gefühl unter dem Brustbein, halb Furcht und halb Vorfreude. War sie wirklich so stark wie ich dachte, die Ähnlichkeit?
Ich machte absichtlich einen kleinen Umweg durch ein niedriges Hartriegelgebüsch, um eine Ausrede zu haben, mich umzudrehen und auf ihn zu warten. Er kam hinter mir her und bückte sich umständlich, um den Schuh mit der Silberschnalle aufzuheben, der ihm hingefallen war.
Nein, dachte ich und beobachtete ihn unauffällig, als er sich aufrichtete, das Gesicht vom Bücken errötet. Sie war nicht so stark, wie ich zuerst gedacht hatte. Jamies Knochenbau war angedeutet, doch es war noch nicht alles da - er hatte die Umrisse, doch ihm fehlte noch die Substanz. Er würde sehr groß werden - das war eindeutig -,aber zur Zeit hatte er ungefähr meine Größe, schlaksig und dünn, mit sehr langen Gliedmaßen, die so schlank waren, daß sie fast zart erschienen.
Außerdem war er viel dunkler als Jamie; sein Haar schimmerte zwar rot in den Sonnenstrahlen, die durch die Zweige fielen, doch es war von einem dunklen Kastanienrot, ganz und gar nicht wie Jamies helles Rotgold, und seine Haut hatte sich in der Sonne zu einem weichen Goldbraun verfärbt, anders als Jamies halbverbrannter Bronzeton.
Doch er hatte die schrägstehenden Katzenaugen der Frasers, und irgend etwas an der Haltung seines Kopfes, der Neigung seiner schmalen Schultern erinnerte mich an -
Brianna. Es traf mich mit einem leichten Schock, wie ein elektrischer Funke. Er ähnelte Jamie sehr, doch es waren meine Erinnerungen an Brianna gewesen, die den spontanen Wiedererkennungseffekt bewirkt hatten, als ich ihn sah. Er war nur zehn Jahre jünger als sie, und mit seinen kindlichen Konturen ähnelte sein Gesicht dem ihren viel mehr als Jamies.
Er war stehengeblieben, um eine lange Haarsträhne aus einem widerspenstigen Hartriegelzweig zu befreien; jetzt holte er mich ein, eine Augenbraue fragend hochgezogen.
»Ist es noch weit?« fragte er. Durch die Anstrengung beim Gehen war die Farbe in sein Gesicht zurückgekehrt, doch er sah immer noch ein bißchen kränklich aus und hielt den Blick von seinen Beinen abgewandt.
»Nein«, sagte ich. Ich deutete auf den Kastanienhain. »Da drüben. Da; du kannst den Rauch aus dem Schornstein sehen.«
Erwartete nicht darauf, daß ich ihn hinführte, sondern machte sich
verbissen auf den Weg, so brannte er darauf, die Blutegel loszuwerden.
Ich folgte ihm rasch, denn ich wollte nicht, daß er vor mir am Blockhaus ankam. Ich war einer Mischung der beunruhigendsten Gefühle ausgesetzt; zuallererst bangte ich um Jamie, etwas danach kam Wut über Lord John Grey. Dann immense Neugier. Und ganz auf dem Grund, so tief, daß ich fast vorgeben konnte, daß er nicht da war, spürte ich einen scharfen Stich der Sehnsucht nach meiner Tochter, deren Gesicht ich nie wiederzusehen erwartet hatte.
Jamie und Lord John saßen auf der Bank neben der Tür; beim Klang unserer Schritte erhob sich Jamie und blickte zum Wald. Er hatte Zeit gehabt, sich vorzubereiten; sein Blick schweifte beiläufig über den Jungen, während er sich an mich wandte.
»Oh, Claire. Du hast also unseren anderen Besucher gefunden. Ich hatte
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