Der Ruf Der Trommel
aus der Tasche gezogen hatte.
»Sagt mir«, sagte ich, einer plötzlichen Eingebung folgend. »Ich will Euren Schmerz nicht wieder aufwühlen - aber wißt Ihr, woran Eure Frau gestorben ist?«
»Woran?« Bei dieser Frage machte er ein erschrockenes Gesicht, riß sich aber sofort zusammen. »Sie ist an der roten Ruhr gestorben, hat ihr Dienstmädchen gesagt.« Sein Mund verzog sich etwas. »Es war… kein schöner Tod, glaube ich.« Rote Ruhr, wie? Das war die Standardbezeichnung für alles mögliche von Amöbenruhr bis hin zur Cholera.
»War ein Arzt dabei? War jemand an Bord, der sich um sie gekümmert hat?«
»Ja«, sagte er ein wenig scharf. »Worauf wollt Ihr hinaus, Ma’am?«
»Auf gar nichts», sagte ich. »Ich habe mich nur gefragt, ob Willie vielleicht dort gesehen hat, wie jemand Blutegel benutzt hat.«
In seinem Gesicht flackerte Verständnis auf.
»Oh, ich verstehe. Ich habe nicht daran gedacht -«
An dieser Stelle bemerkte ich Ian, der sich im Eingang herumdrückte und uns offensichtlich nur ungern unterbrach, in dessen Blick jedoch ein deutliches Drängen lag.
»Wolltest du etwas, Ian?« fragte ich und unterbrach Lord John.
Er schüttelte den Kopf und ließ sein braunes Haar fliegen.
»Nein danke, Tante Claire. Es ist nur -« Er warf Jamie einen hilflosen Blick zu. »Äh, es tut mir leid, Onkel Jamie, ich weiß, daß ich nicht hätte zulassen dürfen, daß er es getan hat, aber -«
»Was?« Alarmiert von Ians Tonfall war Jamie bereits auf den Beinen. »Was hast du gemacht?«
Der Junge verschränkte seine großen Hände ineinander und knackte verlegen mit den Gelenken.
»Na ja, weißt du, Seine Lordschaft hat nach dem Abort gefragt, also habe ich ihm von der Schlange erzählt und daß er besser in den Wald gehen sollte. Das hat er auch getan, aber dann wollte er die Schlange sehen, und… und…«
»Er ist doch nicht gebissen worden?« fragte Jamie ängstlich. Lord John, der offensichtlich im Begriff gewesen war, dasselbe zu fragen, warf ihm einen Blick zu.
»Oh, nein!« Ian machte ein überraschtes Gesicht. »Anfangs konnten wir sie nicht sehen, weil es unten zu dunkel war. Also haben wir die Bank hochgeklappt, um besseres Licht zu haben. Dann konnten wir die Schlange gut sehen und haben ein bißchen mit einem langen Ast nach ihr gestoßen, und sie hat um sich geschlagen, genau wie es in dem Buch steht, aber es hat nicht so ausgesehen, als wollte sie sich selber beißen. Und - und -« Er warf Lord John einen Blick zu und schluckte hörbar.
»Es ist meine Schuld«, sagte er und richtete tapfer die Schultern
auf, um die Schuld besser auf sich nehmen zu können. »Ich habe erwähnt, daß ich schon anfangs daran gedacht habe, sie zu erschießen, daß wir aber das Pulver nicht verschwenden wollten. Also hat Seine Lordschaft gesagt, er würde Papas Pistole aus der Satteltasche holen und das Biest sofort erledigen. Und dann -«
»Ian«, sagte Jamie mit zusammengebissenen Zähnen. »Hör sofort auf herumzuquasseln und sag mir geradeheraus, was du mit dem Jungen gemacht hast. Du hast ihn nicht aus Versehen angeschossen, hoffe ich?«
Bei diesem Seitenhieb auf seine Schießkünste machte Ian ein beleidigtes Gesicht.
»Natürlich nicht!« sagte er.
Lord John hustete höflich und unterband damit weitere gegenseitige Anschuldigungen.
»Vielleicht würdest du so gut sein, mir zu sagen, wo sich mein Sohn zur Zeit befindet?«
Ian holte tief Luft und empfahl sichtbar seine Seele dem Herrn.
»Er ist unten im Abort«, sagte er. »Hast du ein Stück Seil, Onkel Jamie?«
Mit einem bewundernswert ökonomischen Aufwand an Worten und Bewegungen gelangte Jamie in zwei Schritten an die Tür und verschwand, dicht gefolgt von Lord John.
»Ist er mit der Schlange da drin?« fragte ich und durchwühlte hastig den Wäschekorb nach irgend etwas, das ich im Fall des Falles als Tourniquet benutzen konnte.
»Oh, nein, Tante Claire«, versicherte mir Ian. »Du glaubst doch nicht, daß ich ihn allein gelassen hätte, wenn die Schlange noch da wäre, oder? Vielleicht gehe ich besser helfen«, fügte er hinzu und verschwand ebenfalls.
Ich eilte ihm nach und fand Jamie und Lord John, die Schulter an Schulter im Eingang des Aborts ein Gespräch mit der Tiefe führten. Als ich mich auf die Zehenspitzen stellte, um einen Blick über Lord Johns Schulter zu werfen, sah ich das zerfaserte, stumpfe Ende eines langen, schlanken Hickoryastes ein paar Zentimeter über den Rand des rechteckigen Loches hinausragen. Ich hielt
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