Der Ruf Der Trommel
schluckte.
»Du siehst, warum wir dich sofort erkannt haben«, fuhr ihre Tante fort und legte liebevoll die Hand auf den geschnitzten Rahmen.
»Ja. Ja, das sehe ich.«
»Es ist meine Mutter, aye? Deine Großmutter, Ellen MacKenzie.«
»Ja«, sagte Brianna. »Ich weiß.« Staubkörnchen, die sie mit ihren Schritten aufgewühlt hatte, wirbelten träge im Nachmittagslicht umher, das vom Fenster kam. Brianna fühlte sich ganz so, als wirbelte sie mit ihnen herum, nicht länger in der Realität verankert.
In zweihundert Jahren hatte sie - werde ich? dachte sie wild - in der Nationalgalerie vor diesem Porträt gestanden und wütend die Wahrheit geleugnet, die es ihr vor Augen hielt.
Jetzt blickte ihr Ellen MacKenzie genau wie damals entgegen; langhalsig und königlich, mit einem Humor in den schräggestellten Augen, der nicht ganz bis an den feinen Mund reichte. Er war zwar nicht unbedingt ein Spiegelbild; Ellens Stirn war hoch, schmaler als Briannas, und ihr Kinn war rundlich, nicht spitz, ihr ganzes Gesicht etwas sanfter und nicht so kühn geschnitten.
Doch die Ähnlichkeit war da, und sie war so stark, daß sie erschreckend war; die breiten Wangenknochen und das dichte, rote Haar waren die gleichen. Und um ihren Hals lag die Halskette, deren Goldkugeln in der Frühlingssonne leuchteten.
»Wer hat es gemalt?« fragte Brianna schließlich, obwohl sie die Antwort nicht wirklich hören mußte. Das Schild neben dem Gemälde im Museum hatte den Künstler als »Unbekannt« angegeben.
Doch nachdem sie unten das Porträt der beiden kleinen Jungen gesehen hatte, wußte Brianna Bescheid. Das Bild war weniger meisterhaft, ein früherer Versuch - doch dieselbe Hand hatte das Haar und die Haut gemalt.
»Meine Mutter«, sagte Jenny, die Stimme von einem sehnsüchtigen Stolz erfüllt. »Sie hatte großes Geschick im Zeichnen und Malen. Ich habe mir oft gewünscht, ich hätte dieses Talent.«
Brianna spürte, wie sich ihre Finger unbewußt krümmten; die Illusion
des Pinsels zwischen ihnen war einen Augenblick lang so intensiv, daß sie hätte schwören können, glattes Holz zu spüren.
Daher also, dachte sie mit einem leisen Erschauern und hörte geradezu das »Klick!« der Erkenntnis, als ein winziges Stück ihrer Vergangenheit seinen Platz einnahm. Daher habe ich es.
Frank Randall hatte im Scherz gemeint, er könnte keine gerade Linie zeichnen; Claire, es sei das einzige, was sie könnte. Doch Brianna hatte die Gabe der Gestaltung von Linien und Kurven, von Licht und Schatten - und jetzt hatte sie auch den Ursprung dieser Gabe gefunden. Was sonst noch? dachte sie plötzlich. Was besaß sie sonst noch, das einst der Frau in dem Bild gehört hatte, dem Jungen mit dem stur geneigten Kopf?
»Ned Gowan hat es mir aus Leoch mitgebracht«, sagte Jenny und berührte den Rahmen mit einer gewissen Ehrfurcht. »Er hat es gerettet, als die Engländer das Schloß geschleift haben, nach dem Aufstand.« Sie lächelte schwach. »Er hat eine Vorliebe für die Familie, unser Ned. Er ist ein Lowlander aus Edinburgh und hat keine eigenen Verwandten, aber er hat die MacKenzies zu seinem Clan gemacht - selbst jetzt, wo es den Clan nicht mehr gibt.«
»Nicht mehr?« platzte Brianna heraus. »Sie sind alle tot?« Der Schrecken in ihrer Stimme brachte Jenny dazu, sie überrascht anzusehen.
»Och, nein. Das habe ich nicht gemeint, Kleine. Aber Leoch steht nicht mehr«, fügte sie in leiserem Ton hinzu. »Und seine letzten Anführer leben nicht mehr - Colum und sein Bruder Dougal… sie sind für die Stuarts gestorben.«
Das hatte sie natürlich gewußt; Claire hatte es ihr erzählt. Was überraschend war, war der plötzliche Anflug unerwarteter Trauer; Bedauern um diese Fremden in ihrer neugefundenen Verwandtschaft. Mühsam schluckte sie den Kloß in ihrem Hals hinunter, wandte sich um und folgte Jenny die Treppe hinauf.
»War Leoch ein großes Schloß?« fragte sie. Ihre Tante blieb stehen, eine Hand auf dem Geländer.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. Jenny blickte zurück auf Ellens Bild, so etwas wie Bedauern im Blick.
»Ich habe es nie gesehen - und jetzt ist es fort.«
Wenn man das Schlafzimmer betrat, so war es, als käme man in eine Unterwasserhöhle. Wie alle Zimmer war auch dieses klein und hatte niedrige, von den jahrelangen Torffeuern rauchgeschwärzte Deckenbalken, doch die Wände waren frisch und weiß, und das Zimmer
selbst war von einem grünlichen, wogenden Licht erfüllt, das sich durch zwei große Fenster ergoß,
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