Der Ruf Der Trommel
schüttelte das Mädchen leicht, um ihr Dampfpfeifengekreische zu beenden. »Es ist nur ein Hai, hörst du? Du weißt doch, was ein Hai ist, oder? Wir haben erst letzte Woche einen gegessen!«
Sie hatte aufgehört zu schreien, doch ihr Gesicht war immer noch
kreidebleich, ihre Augen weit aufgerissen, und ihr schmaler Mund zuckte.
»Seid Ihr sicher?« sagte sie. »Es - es war kein Cirein Croin?«
»Nein«, sagte Roger sanft und gab ihr eine Kelle Wasser, die sie ganz allein trinken durfte. »Nur ein Hai.« Der größte Hai, den er je gesehen hatte, und er strahlte eine blindwütige Heftigkeit aus, bei deren Anblick sich die Haare auf seinen Unterarmen sträubten - aber dennoch nur ein Hai. Sie umlagerten das Schiff, wann immer seine Geschwindigkeit nachließ, und gierten nach den Abfällen und Essensresten, die über Bord geworfen wurden.
»Isobeáil!« Ein ungeduldiger Ruf orderte seine Gefährtin zurück, um der Familie bei ihren Arbeiten zu helfen. Zögernden Schrittes und mit vorgeschobener Lippe schlich Isobeáil davon, um ihre Mutter bei den Wassereimern zu unterstützen, und Roger konnte seine Aufgabe ohne weitere Ablenkung beenden.
Zumindest keine weitere Ablenkung als seine Gedanken. Es gelang ihm zumeist zu vergessen, daß die Gloriana nichts unter sich hatte als meilenweise Wasser; daß das Schiff ganz und gar nicht die kleine, stabile Insel war, die es zu sein schien, sondern nur eine zerbrechliche Hülle in der Gewalt von Kräften, die es von einem Augenblick zum nächsten zerschmettern konnten - und mit ihm alle an Bord.
Hatte die Phillip Alonzo den Hafen sicher erreicht? fragte er sich. Es kam durchaus vor, daß Schiffe sanken, und zwar recht häufig; er hatte genug Berichte darüber gelesen. Nach den vergangenen drei Tagen konnte er sich nur noch wundern, daß die Mehrzahl nicht sank. Nun, und er konnte in dieser Hinsicht exakt gar nichts tun außer zu beten.
Und schütz’ uns in der Not auf See, o Herr, hab’ Erbarmen.
Plötzlich verstand er hautnah, was der Autor dieser Zeile aus einem Kirchenlied gemeint hatte.
Als er fertig war, ließ er die Kelle in das Faß fallen und ergriff ein Brett, um es damit zuzudecken; sonst bestand die Gefahr, daß eine Ratte hineinfiel und ertrank. Eine der Frauen ergriff ihn beim Arm, als er sich umdrehte. Sie deutete auf den kleinen Jungen, den sie auf dem Arm hatte und der sich an ihren Hals drückte.
»Mr. MacKenzie, ob der Kapitän uns mit seinem Ring abreibt? Unser Gibbie hat wunde Augen, weil er so lange im Dunkeln war.«
Roger zögerte, kam sich dann aber selbst lächerlich vor. Genau wie der Rest der Besatzung versuchte er, Bonnet aus dem Weg zu gehen, doch es gab keinen Grund, der Frau ihre Bitte zu versagen; der Kapitän
hatte seinen Goldring, der ein begehrtes Heilmittel bei Augenschmerzen und Entzündungen war, schon öfter dafür hergegeben.
»Na klar«, sagte er und vergaß sich selbst für einen Augenblick. »Kommt nur.« Die Frau blinzelte überrascht, folgte ihm aber gehorsam. Der Kapitän war auf seinem Achterdeck in eine Unterhaltung mit dem Maat vertieft; Roger signalisierte der Frau, einen Augenblick zu warten, und sie nickte und zog sich bescheiden hinter ihn zurück.
Der Kapitän sah genauso müde aus wie sie alle, und die Übernächtigung grub ihm die Falten tiefer ins Gesicht. Luzifer, nachdem er eine Woche lang die Hölle regiert und festgestellt hatte, daß es kein Zuckerschlecken war, dachte Roger mit säuerlicher Belustigung.
»…beschädigte Teekisten?« sagte Bonnet gerade an den Maat gerichtet.
»Nur zwei, und sie sind nicht durch und durch naß«, erwiderte Dixon. »Wir können einen Teil retten und ihn vielleicht flußaufwärts in Cross Creek loswerden.«
»Aye, in Edenton oder New Bern nehmen sie’s genauer. Da bekommen wir aber auch die besten Preise; wir verkaufen, was wir können, bevor wir nach Wilmington weiterfahren.«
Bonnet drehte sich etwas zur Seite und erblickte Roger. Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich, entspannte sich aber wieder, als er die Bitte hörte. Kommentarlos langte er herab und rieb dem kleinen Gilbert sanft mit dem goldenen Ring, den er am kleinen Finger trug, über die geschlossenen Augen. Roger sah einen einfachen, breiten Ring; er sah fast aus wie ein Ehering, nur kleiner - vielleicht der Ring einer Frau. Der ehrfurchtgebietende Bonnet mit einem Liebespfand? Konnte sein, schätzte Roger; es mochte Frauen geben, die sich von der unterschwelligen Gewalt in der Ausstrahlung des
Weitere Kostenlose Bücher