Der Ruf Der Trommel
doch er hoffte mit aller Gewalt, daß es so war.
Das Kind trug ein langes Kleidungsstück aus einem weißen Gazestoff; er hob es an, und sein Blick fiel auf die durchhängende Windel und das perfekte Oval des winzigen Nabels genau darüber. Von einer Neugier angetrieben, die zu hinterfragen ihm nicht in den Sinn kam, hakte er seinen Finger in den Rand des Windeltuches ein und zog es nach unten.
»Ich habe dir doch gesagt, es ist alles dran.« Brianna stand neben ihm.
»Na ja, er ist dran«, sagte Roger skeptisch. »Aber ist er nicht ein bißchen… klein?«
Sie lachte.
»Er wächst schon noch«, versicherte sie ihm. »Er ist ja nicht so, als würde er im Augenblick sonderlich viel damit anfangen.«
Sein eigener Penis, der ihm schlaff zwischen den Beinen hing, zuckte leicht bei dieser Erinnerung.
»Soll ich ihn nehmen?« Sie griff nach dem Baby, doch er schüttelte den Kopf und hob das Kind wieder hoch.
»Noch nicht.« Es - er - roch nach Milch und etwas Süßsäuerlichem. Etwas anderem, seinem eigenen, undefinierbaren Geruch, anders als alles andere, was Roger je gerochen hatte.
»Mama nennt es Eau de Baby.« Sie saß auf dem Bett, ein schwaches Lächeln auf dem Gesicht. »Sie sagt, es ist ein natürlicher Schutzmechanismus; eins der Dinge, die Babies benutzen, um ihre Eltern davon abzuhalten, sie umzubringen.«
»Ihn umzubringen? Aber er ist doch so ein süßes Kerlchen«, protestierte Roger.
Ihre Augenbraue zog sich verächtlich nach oben.
»Du hast den letzten Monat nicht mit dem kleinen Monster verbracht. Dies ist die erste Nacht seit drei Wochen, in der er keine Blähungen hat. Ich hätte ihn längst auf einem Hügel ausgesetzt, wenn er nicht meiner wäre.«
Wenn er nicht meiner wäre. Diese Sicherheit war wohl der Lohn einer Mutter. Sie würde es immer wissen - hatte es immer gewußt. Einen kurzen, überraschenden Augenblick lang beneidete er sie.
Das Baby regte sich und machte ein kurzes, schwaches Seufzgeräusch an seinem Hals. Bevor er eine Bewegung machen konnte, war sie aufgestanden, hatte das Kind wieder im Arm und klopfte ihm auf den gekrümmten, kleinen Rücken. Ein leises Rülpsen, und er erschlaffte von neuem.
Brianna legte ihn bäuchlings in die Wiege, vorsichtig, als wäre er mit einer Dynamitstange verkabelt. Er konnte den Umriß ihres Körpers schwach durch die Gaze sehen, vom Feuer in ihrem Rücken erleuchtet. Als sie sich umdrehte, war er bereit.
»Du hättest zurückgehen können, sobald du es wußtet. Du hättest genug Zeit gehabt.« Er hielt ihren Blick fest und ließ sie nicht wegsehen. »Also ist es jetzt an mir zu fragen, nicht wahr? Warum hast du auf mich gewartet? Aus Liebe - oder Pflichtgefühl?«
»Beides«, sagte sie, und ihre Augen waren fast schwarz. »Keins von beidem. Ich - konnte einfach nicht ohne dich gehen.«
Er atmete tief durch und fühlte den letzten Zweifel in seiner Magengrube dahinschmelzen.
»Dann weißt du es also?«
»Ja.« Sie zog die Schultern hoch und ließ sie wieder herabfallen. Damit fiel auch das lose Nachthemd herab, und sie stand genauso nackt da wie er. Es war rot, bei Gott. Mehr als rot; sie war golden und bernsteinfarben, Elfenbein und Zinnober, und er begehrte sie mit einer Sehnsucht, die weit über seinen Körper hinausging.
»Du hast gesagt, du liebst mich, bei allem, was dir heilig ist«, flüsterte sie. »Was ist es, das dir heilig ist, Roger?«
Er stand da und streckte die Hand nach ihr aus, sanft, vorsichtig. Hielt sie an sein Herz und dachte an das stinkende Zwischendeck der Gloriana und an eine abgehärmte, zerlumpte Frau, die nach Milch und Unrat roch. An Feuer und Trommeln und Blut und ein Waisenkind, getauft im Namen des Vaters, der sich selbst geopfert hatte, aus Angst vor der Macht der Liebe.
»Du«, sagte er in ihr Haar. »Er. Wir. Das ist doch alles, was es gibt, oder?«
68
Familienidylle
August 1770
Es war ein friedlicher Morgen. Das Baby hatte die ganze Nacht durchgeschlafen, eine Wohltat, für die es allgemein gelobt wurde. Zwei Hennen waren so freundlich gewesen, ihre Eier im Stall zu legen, anstatt sie in der Landschaft zu verteilen, so daß ich nicht in den Brombeerbüschen herumkriechen mußte, um das Frühstück vor dem Kochen erst einmal zu finden.
Das Brot war in seiner Schüssel zu einem perfekten Schneehügel aufgegangen, von Lizzie zu Laiben geformt worden und - da unser neuer Kachelofen die allgemeine kooperative Stimmung teilte - zu einer duftendbraunen Köstlichkeit fertiggebacken, die das Haus
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