Der Ruf der Wellen: Roman (German Edition)
praktischem Denken verblüffte sie immer wieder. »Dad, deine Recherchen, die Archive, die Manifeste, die Briefe … Wie du dich durch die Aufzeichnungen von dem Sturm gewühlt und die Gezeiten berechnet hast. Du hast so viel Arbeit in dieses Projekt investiert!«
»Das habe ich«, stimmte er ihr zu. »Und aus diesem Grund finde ich es umso interessanter, dass die Ergebnisse von Bucks Nachforschungen weitgehend mit meinen übereinstimmen. Von ihm kann ich eine Menge lernen. Ist dir klar, dass er drei Jahre lang im Nordatlantik gearbeitet hat, in Tiefen von einhundertfünfzig Metern und mehr? Eiskaltes, stockdunkles Wasser. Er hat in Schlamm, Korallenbänken und Gebieten mit Haien getaucht. Stellt euch das einmal vor!«
Tate sah an der Art, wie sein Blick ins Weite schweifte und seine Lippen sich verzogen, dass er es sich tatsächlich gerade
ausmalte. Mit einem Seufzer legte sie eine Hand auf seine Schulter. »Dad, nur weil er mehr Erfahrung hat –«
»Die Erfahrung eines ganzen Lebens.« Ray tätschelte ihre Hand. »Genau das ist es, was er einbringt: Erfahrung, Ausdauer, den Verstand eines Jägers. Und immerhin etwas so Grundlegendes wie seine Arbeitskraft. Zwei Teams arbeiten effizienter als eins, Tate.« Er hielt inne. »Schatz, es ist mir sehr wichtig, dass du meine Entscheidung verstehst. Wenn du sie nicht akzeptieren kannst, sage ich Buck, dass unser Deal nicht zustande kommt.«
Und das würde ihn eine Menge kosten, dachte Tate traurig. Seinen Stolz, weil er bereits sein Wort gegeben hatte. Und Hoffnung, weil er auf den Erfolg seines neuen Teams vertraute.
»Ich verstehe dich«, sagte sie deshalb und schob ihre persönliche Abneigung beiseite. »Und ich akzeptiere deine Entscheidung. Nur noch eine Frage.«
»Schieß los«, forderte Ray sie auf.
»Wie können wir sicher sein, dass sie nicht behalten, was sie dort unten finden, wenn ihr Team runtergeht?«
»Weil wir die Teams aufteilen.« Er stand auf, um den Tisch abzuräumen. »Ich tauche mit Buck, du mit Matthew.«
»Ist das nicht eine tolle Idee?« Marla kicherte angesichts des entsetzten Gesichtsausdrucks ihrer Tochter. »Ein Stück Torte gefällig?«
Die Morgenröte breitete sich in bronze- und rosafarbenen Streifen über dem Wasser aus, auf dem sich die Farben des Himmels spiegelten. Die Luft war rein und angenehm warm. In der Ferne zeichneten sich im ersten Licht die hohen Klippen von Saint Kitts ab.
Weiter südlich lag der Vulkankegel, der über der kleinen Insel Nevis emporragte, in Wolken gehüllt. Die weißen Strände waren menschenleer.
Drei Pelikane flogen vorbei, tauchten dann schnell und
beinahe geräuschlos in einer Kaskade von Wassertropfen unter. Gleich darauf stiegen sie einträchtig wieder auf, flogen weiter, tauchten noch einmal. Wellen schlugen leise gegen den Schiffsrumpf.
Langsam wurde das Licht immer kräftiger, und das Wasser färbte sich saphirblau.
Der Anblick vermochte Tates Stimmung nicht zu heben. Sie stieg in ihren Neoprenanzug, checkte ihre Taucheruhr, den Kompass an ihrem Handgelenk und die Ventile der Sauerstoffflaschen. Während ihr Vater und Buck sich auf dem Vorderdeck bei einer Tasse Kaffee unterhielten, schnallte sie sich ihr Tauchermesser um die Wade.
Neben ihr führte Matthew die gleichen Routinehandgriffe aus.
»Die Sache passt mir genauso wenig wie dir«, murmelte er. Er hob ihre Flaschen an und half ihr dabei, sie festzuschnallen.
»Da fühle ich mich doch gleich besser.«
Sie befestigten ihre Bleigürtel und musterten einander mit gegenseitigem Misstrauen. »Versuch einfach, nicht zu weit zurückzubleiben, und komm mir aber auch nicht in die Quere. Dann dürfte es keine Probleme geben.«
»Ach ja.« Tate spuckte in ihre Maske, rieb sie aus und spülte mit Meerwasser nach. »Komm du mir lieber nicht in die Quere.« Sie zwang sich zu einem Lächeln, als Buck und ihr Vater herübergeschlendert kamen.
»Fertig?«, fragte Ray und überprüfte noch einmal ihre Sauerstoffflaschen. Er warf einen Blick auf den leuchtend orangefarbenen Plastikkanister, der als Markierung diente. Ruhig schwamm er auf der glatten See. »Vergesst nicht die Richtung.«
»Nordnordwest – wie bei Cary Grant.« Tate gab ihm einen Kuss auf die Wange und roch sein Aftershave. »Keine Sorge.«
Ich mache mir keine Sorgen, redete Ray sich ein. Natürlich
nicht. Aber es kam nun einmal nicht allzu häufig vor, dass sein kleines Mädchen ohne ihn hinunterging. »Viel Spaß.«
Buck hakte seine Daumen in den Hosenbund seiner
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