Der Ruf der Wellen: Roman (German Edition)
Brücke.
»Legen Sie Geschwindigkeit zu!«
»Sir.« Der Kapitän sah von seinen Karten hoch. »Von Osten zieht ein Sturm auf. Ich wollte gerade den Kurs ändern, um ihm auszuweichen.«
»Wir bleiben auf Kurs, verdammt noch mal!« In einem seiner seltenen öffentlichen Wutausbrüche fuhr VanDyke mit einer Hand über den Tisch, und die Karten segelten zu Boden. »Halten Sie Kurs und erhöhen Sie das Tempo. Entweder kommt dieses Boot morgen früh in Nevis an, oder Sie können auf einem Paddelboot anheuern.«
Er wartete die Antwort nicht ab, denn VanDykes Befehle wurden immer ausgeführt, seine Wünsche ausnahmslos erfüllt. Aber der gedemütigte Ausdruck auf dem Gesicht des Kapitäns beruhigte oder besänftigte VanDyke weit weniger als erwartet.
Seine Hände zitterten, eine düstere Wolke der Wut drohte ihn zu überwältigen. Die ersten Anzeichen seiner Schwäche
machten ihn ärgerlich und ängstigten ihn zugleich. Um sich seine Selbstbeherrschung zu beweisen, marschierte er in den Salon, beschimpfte den stets dienstbereiten Barkeeper und nahm sich eine Flasche Chevis.
Das Amulett. Er hätte schwören können, dass er es aufleuchten sehen und sein Gewicht um seinen Hals gespürt hatte, als er sich über die Frau in seinem Bett beugte. Und diese Frau war nicht die immer lästiger werdende Gefährtin der letzten zwei Monate gewesen, sondern Angelique selbst.
VanDyke befahl dem Barkeeper, ihn allein zu lassen, goss sich einen Schluck ein, leerte das Glas und schenkte sich nach. Seine Hände zitterten immer noch, ballten sich dann zu Fäusten.
Es war zu real gewesen, er hatte es sich nicht eingebildet. Es war, daran bestand für ihn kein Zweifel, eine Vorahnung.
Angelique forderte ihn wieder heraus, verhöhnte ihn. Aber diesmal würde er sich nicht überlisten lassen. Sein Kurs stand fest, wie er seit dem Moment seiner Geburt festgestanden hatte. Durch den Alkohol hindurch konnte er den Ruf des Schicksals beinahe schmecken, und sein Aroma war süß und unwiderstehlich. Schon sehr bald würde er das Amulett in den Händen halten und sich seiner Macht bedienen. Mit ihm würde er sein Erbe antreten, und seine Rache.
»Tate wirkt so nachdenklich«, bemerkte LaRue und zog den Reißverschluss seines Taucheranzugs zu.
»Wir haben hart gearbeitet.« Matthew wuchtete die Sauerstoffflaschen ins Beiboot. Buck wollte sie an Land bringen, um sie nachfüllen zu lassen. »Wahrscheinlich ist sie müde.«
»Und du, mon ami?«
»Mir geht es gut. Ray und du solltet am südöstlichen Graben arbeiten.«
»Wie du meinst.« LaRue ließ sich Zeit und schnallte die Flaschen fest. »Mir ist nur aufgefallen, dass sie nicht an Deck
geblieben ist, nachdem ihr aufgetaucht wart, wie sie es sonst immer tut. Sie ging sofort nach unten.«
»Na und? Schreibst du ein Buch über sie?«
»Ich studiere die menschliche Natur, mein lieber Matthew. Meiner Meinung nach verbirgt die hübsche Demoiselle etwas, das ihr Sorgen bereitet.«
»Kümmere dich lieber um dich selbst«, schlug Matthew vor.
»Ah, aber das Studierender anderen ist so viel interessanter.« LaRue lächelte Matthew zu und zog seine Flossen an. »Was jemand tut oder nicht tut, was er denkt oder plant … Verstehst du mich?«
»Ich verstehe, dass du zu viel redest.« Matthew nickte in Richtung New Adventure . »Ray wartet auf dich.«
»Mein Tauchpartner. So eine Partnerschaft erfordert vollkommenes Vertrauen. Und weißt du, mein lieber Matthew …«, LaRue streifte seine Maske über, »auf mich kannst du dich verlassen.«
»Okay.«
LaRue salutierte und verschwand unter Wasser. Etwas sagte ihm, dass er schon bald wieder telefonieren würde.
Tate war ratlos. Sie saß auf der Bettkante und hielt die Kette in der Hand. Es war falsch, den anderen nichts davon zu sagen. Das war ihr klar, und doch …
Wenn Matthew wüsste, dass sie das Amulett gefunden hatte, würde ihn nichts davon abhalten, es ihr abzunehmen. Er würde VanDyke darauf aufmerksam machen, dass er die Kette besaß. Er würde eine Kraftprobe herausfordern.
Für Tate bestand kein Zweifel daran, dass nur einer der beiden lebend daraus hervorgehen würde.
So viel Zeit war vergangen. Nachdenklich fuhr sie mit den Fingern über die eingravierten Namen. Sie hatte nicht mehr wirklich daran geglaubt, dass sie das Amulett finden würden. Und heimlich hatte sie entgegen aller Logik, aller wissenschaftlichen Neugier, gehofft, dass sie es nicht finden würden.
Jetzt war es Wirklichkeit geworden und lag in ihrer Hand.
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