Der Ruf der Wellen: Roman (German Edition)
dem Zaun und dem Hügel lag ein Sumpf. Dunkle, dschungelartige Kudzusträucher und hässliche Bäume, ein
träger Fluss. Dort gab es Schlangen, und meine Eltern hatten mir verboten, da zu spielen.«
»Was natürlich deine Neugier weckte.«
Ray lachte und küsste Tate auf die Stirn. »Natürlich. Es kursierten Geschichten, dass der Ort verwunschen sei. Dadurch wurde die Versuchung nur noch größer. Angeblich waren kleine Jungs dort für immer verschwunden. Ich stand am Zaun, roch an dem Geißblatt, das dort rankte, und fragte mich, was wohl wäre, wenn.«
»Und? Bist du je über den Zaun geklettert?«
»Einmal wagte ich mich bis an die Stelle, wo man den Fluss riechen und die Weinranken an den Bäumen sehen konnte. Weiter bin ich nie gegangen.«
»Das war vermutlich auch besser so. Womöglich hätte dich eine Schlange gebissen.«
»Aber was wäre gewesen, wenn?«, murmelte Ray. »Diese Neugier habe ich nie verloren.«
»Du weißt, dass der Sumpf nicht verwunschen war. Das hat dir deine Mutter nur erzählt, damit du dich von dort fern hältst, nicht in den Fluss fällst oder dich verläufst.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich alles war.« Er sah einer Möwe am Himmel nach, die auf den Horizont zusteuerte. »Ich fände es sehr schade, wenn wir unsere Neugier verlieren würden, wenn wir eindeutig wüssten, dass es keine Magie gibt – ob gut oder böse. Heute ist der Fluch der Angelique mein verwunschener Sumpf, und diesmal werde ich hingehen und ihn mir selbst ansehen.«
Lachend zog Ray Tate an sich. »Vielleicht redet Buck sich dann auch nicht mehr ein, dass er nicht mehr der Mann ist, der er früher einmal war, und Matthew gibt sich nicht mehr die Schuld am Tod seines Vaters. Und du …« Er sah sie an. »Vielleicht lässt du dann wieder ein wenig Magie in dein Leben.«
»Das ist ziemlich viel verlangt von einer Halskette.«
»Aber was wäre, wenn?« Er drückte sie noch einmal an sich. »Ich möchte, dass du glücklich bist, Tate.«
»Ich bin glücklich.«
»Richtig glücklich. Ich weiß, dass du vor acht Jahren etwas in dir verschlossen hast, und ich habe mir immer Sorgen gemacht, dass ich damals falsch handelte, weil ich nur das Beste für dich wollte.«
»Du hast noch nie falsch gehandelt.« Tate warf den Kopf zurück und betrachtete sein Gesicht. »Jedenfalls nicht, wenn es um mich ging.«
»Ich wusste, was Matthew für dich empfand, was du für ihn empfandest. Es hat mir Sorgen bereitet.«
»Es gab nichts, worüber du dir hättest Sorgen machen müssen.«
»Du warst so jung.« Er seufzte und strich über ihr Haar. »Ich sehe übrigens auch, was er jetzt für dich empfindet.«
»Jetzt bin ich nicht mehr so jung«, bemerkte sie, »und du brauchst dir immer noch keine Sorgen zu machen.«
»Ich sehe, was er für dich empfindet«, wiederholte Ray und betrachtete seine Tochter mit einem forschenden Blick. »Was mir Gedanken macht und mich überrascht, ist die Tatsache, dass ich nicht sehe, was du für ihn fühlst.«
»Vielleicht weiß ich das selbst noch nicht. Ich will mich noch nicht entscheiden.« Tate schauderte und brachte dann ein Lächeln zustande. »Du solltest dir keine Sorgen über etwas machen, das ich voll und ganz unter Kontrolle habe.«
»Vielleicht liegt genau da das Problem.«
»Dir kann man es wohl gar nicht recht machen.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste Ray. »Mal sehen, ob Matthew so weit ist.«
Matthew stand auf der Mermaid, mit einem Ellenbogen auf die Reling gestützt, eine Kaffeetasse in der anderen Hand. Ihre Gefühle, der innere Aufruhr und die Sehnsucht, überraschten Tate. Ihr Herz wurde butterweich und schien dahinzuschmelzen.
Er sah so einsam aus.
Es ist nicht mein Problem, redete sie sich ein. Sie würde sich keine Gedanken darüber machen.
Aber dann wandte er den Kopf, und über den Wellen trafen sich ihre Blicke. Ausdruckslos sah er sie an. Ähnlich wie der Sturm hatte sich der Aufruhr, der in ihm getobt hatte, beruhigt. Zumindest hatte Matthew ihn unter Kontrolle gebracht. Tate sah nur tiefes, undurchdringliches Blau.
»Die See ist wieder ruhig!«, rief sie. »Ich möchte tauchen.«
»Vielleicht sollten wir noch eine oder zwei Stunden warten.«
Etwas schnürte ihr die Kehle zu. »Ich möchte jetzt anfangen. Falls das Wasser zu unruhig ist, können wir immer noch abbrechen.«
»In Ordnung. Hol deine Ausrüstung.«
Sie wandte sich um. Verdammt sollte er sein, genau wie die Isabella, Angelique und ihre verfluchte Halskette!
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