Der Ruf der Wellen: Roman (German Edition)
sich in unerträglicher Deutlichkeit. Er konnte alles genau erkennen, vom ersten Stoß, mit dem Buck ihn aus dem Angriffskurs des Hais manövriert hatte, bis hin zur Hektik und dem Lärm in der Notaufnahme.
Langsam hob er seine Hand und spannte sie an. Er erinnerte sich daran, wie Buck auf der Fahrt zur Insel seine Finger umklammert hatte. Erst da war ihm bewusst geworden, dass Buck tatsächlich noch lebte. Und das war fast noch schlimmer, weil er nicht glauben konnte, dass sein Onkel durchhalten würde.
Matthew beschlich der Verdacht, dass sich das Meer einen Spaß daraus machte, ihm die Menschen zu nehmen, an denen ihm am meisten lag.
Der Fluch der Angelique, dachte er in einer Welle von Schuldgefühlen und Trauer. Vielleicht hatte Buck Recht gehabt. Die verdammte Halskette lag auf dem Meeresgrund und wartete auf ihr nächstes Opfer. Die Suche danach hatte bereits zwei Menschen, die er liebte, das Leben gekostet.
Noch mehr Tote durfte es nicht geben.
Er rieb sich das Gesicht wie ein Mann, der aus einem tiefen Schlaf erwacht. Ein Mensch hatte seinen Vater auf dem Gewissen, und ein Hai hatte Buck getötet. Im Grunde ein jämmerlicher Versuch, sein eigenes Versagen zu rechtfertigen und die Schuld auf ein Amulett abzuwälzen, das er noch nie gesehen hatte.
Wie viel Blut an dieser alten Halskette und der damit verbundenen Geschichte auch kleben mochte, Matthew wusste, dass er ganz allein die Schuld trug. Wenn er schneller reagiert hätte, wäre Buck nichts passiert. Wenn er auf seine innere Stimme gehört hätte, würde sein Vater noch leben.
So wie er selbst noch lebte und ihm nichts passiert war. Diese Schuld würde er sein Leben lang mit sich herumtragen. Für einen Moment legte er die Stirn auf die Knie und bemühte sich, einen klaren Kopf zu bekommen. Er wusste, dass die Beaumonts am Ende des Ganges im Warteraum saßen. Sie hatten ihm Trost und Unterstützung angeboten, und er war vor ihnen geflohen. Ihre stille Anteilnahme war ihm unerträglich.
Ihm war längst bewusst, dass Buck seine winzige Überlebenschance nicht Matthew, sondern Marlas schneller, ruhiger und umsichtiger Reaktion verdankte. Sie war es gewesen, die einen klaren Kopf bewahrt und schließlich sogar daran gedacht hatte, das Notwendigste vom Boot mitzunehmen.
Er hingegen war noch nicht einmal dazu in der Lage gewesen, die Formulare auszufüllen, die man ihm im Krankenhaus vorgelegt hatte. Er konnte nur darauf starren, bis Marla ihm schließlich die Blätter aus der Hand nahm, ihm
leise Fragen stellte und die erforderlichen Angaben selbst eintrug.
Die Erkenntnis, dass er im Grunde überflüssig war, ängstigte ihn.
»Matthew …« Tate hockte sich neben ihn und drückte ihm einen Becher Kaffee in die Hand. »Komm mit und setz dich zu uns.«
Er schüttelte den Kopf. Automatisch hob er die Tasse und nahm einen Schluck. Ihr Gesicht wirkte nach dem erlittenen Schock immer noch blass und glänzend, ihre Augen waren rot umrandet. Aber die Hand auf seinem angezogenen Knie blieb ruhig.
Noch einmal spulte sich in seinem Kopf die beängstigende Szene ab, als Tate durch das Wasser direkt auf das Maul des Hais zugeschwommen war.
»Lass mich allein, Tate.«
Unbeeindruckt von seiner Verschlossenheit, setzte sie sich neben ihn und legte einen Arm um seine Schultern. »Er schafft es, Matthew, ich weiß es.«
»Bist du neuerdings unter die Wahrsager gegangen?«
Seine Stimme klang kühl und scharf. Obwohl seine Worte sie verletzt hatten, lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter. »Es ist wichtig, daran zu glauben. Es hilft Buck, wenn wir fest daran glauben.«
Sie irrte sich – es tat weh, daran zu glauben. Und weil das so war, riss er sich von ihr los und stand auf. »Ich gehe jetzt spazieren.«
»Dann komme ich mit.«
»Das will ich nicht.« Er wandte sich ihr zu. Furcht, Schuldgefühle und Trauer schlugen in Wut um. »Ich will dich nicht in meiner Nähe haben.«
Tates Magen krampfte sich zusammen, ihre Augen brannten, aber sie blieb fest. »Ich lasse dich jetzt nicht allein, Matthew. Daran solltest du dich gewöhnen.«
»Das will ich nicht«, wiederholte er, legte eine Hand unter
ihr Kinn und drängte sie an die Wand. »Ich brauche dich nicht. Warum gehst du also nicht zurück zu deiner reizenden Familie? Warum verschwindet ihr nicht?«
»Weil Buck uns viel bedeutet.« Obwohl es ihr gelang, die Tränen herunterzuschlucken, klangen ihre Worte rau. »Genau wie du.«
»Ihr kennt uns doch gar nicht.« Eine innere Stimme befahl ihm
Weitere Kostenlose Bücher