Der Ruf der Wellen: Roman (German Edition)
unüberhörbar, schleunigst das Weite zu suchen, und er versetzte Tate einen Stoß. Sein Gesicht war jetzt direkt vor ihrem, seine Augen starrten sie hart und gefühllos an. »Für euch ist das doch alles nur ein Spiel, ein paar Monate in der Sonne, eine Zeit lang Schatzjäger spielen! Und ihr hattet Glück. Du hast ja keine Ahnung, wie das ist, Monat für Monat, Jahr für Jahr zu tauchen und nichts vorweisen zu können! Zu sterben und nichts zu hinterlassen.«
Tates Atem ging jetzt schneller, obwohl sie sich bemühte, ruhig zu bleiben. »Er wird nicht sterben.«
»Er ist längst tot.« Die Wut in Matthews Augen erlosch wie eine Lampe, die plötzlich ausgeschaltet wird. »Er ist in der Minute gestorben, als er mich aus dem Weg drängte. Der verdammte Idiot hat mich zur Seite geschoben!«
Er hatte es ausgesprochen, und jetzt hallten seine Worte von den Wänden des unpersönlichen Krankenhausflurs wider. Er wandte sich ab, bedeckte sein Gesicht, konnte den Worten aber nicht entkommen.
»Er hat mich aus dem Weg gestoßen, sich vor mich gedrängt. Was hat er sich nur dabei gedacht? Was hast du dir dabei gedacht?«, fragte Matthew, wirbelte sie herum und spürte, dass ihn seine hilflose Wut erneut wie eine Flutwelle überrollte. »Einfach auf uns zuzuschwimmen! Wie kann man nur so blöd sein? Wenn ein Hai einmal Blut gewittert hat, greift er alles an, was ihm in die Quere kommt. Du hättest zum Boot schwimmen sollen. Bei so viel Blut im Wasser hatten wir Glück, dass wir nicht ein Dutzend hungriger Haie
angelockt haben. Was hast du dir verdammt noch mal dabei gedacht?«
»Ich habe an dich gedacht«, flüsterte sie und lehnte sich erschöpft an die Wand. »Ich vermute, sowohl Buck als auch ich haben an dich gedacht. Ich hätte es nicht ertragen, wenn dir etwas zugestoßen wäre, Matthew. Damit hätte ich nicht leben können. Ich liebe dich.«
Erschüttert starrte er sie an. In seinem ganzen Leben hatte noch niemand diese drei Worte zu ihm gesagt. »Dann bist du noch dümmer, als ich dachte«, brachte er heraus und fuhr sich mit unsicheren Fingern durchs Haar.
»Mag sein.« Ihr Mund zitterte, obwohl sie die Lippen fest zusammenpresste. »Du bist genauso dumm. Schließlich hast du Buck nicht im Stich gelassen. Du hieltest ihn für tot und hättest dich in Sicherheit bringen können, als der Hai ihn mit sich riss. Das hast du nicht getan. Warum bist du nicht zum Boot geschwommen, Matthew?«
Er schüttelte nur den Kopf. Als sie einen Schritt auf ihn zutrat und ihre Arme um ihn legte, vergrub er sein Gesicht in ihrem Haar. »Tate …«
»Schon gut«, murmelte sie und streichelte beruhigend seinen verspannten Rücken. »Alles wird gut. Halte dich einfach an mir fest.«
»Ich bringe nur Unglück.«
»Das ist Unsinn. Du bist müde und machst dir Sorgen. Komm und setz dich zu uns. Lass uns gemeinsam warten.«
Sie blieb bei ihm. Die Stunden vergingen in jenem traumähnlichen Zustand, der für Krankenhäuser so typisch ist. Menschen kamen und gingen. Unbewusst nahmen sie das sanfte Knirschen von Kreppsolen auf Fliesen wahr, als eine Krankenschwester durch die Tür trat, das Aroma von Kaffee, der seit Stunden auf der Heizplatte vor sich hin schmorte, den scharfen Gestank des Desinfektionsmittels, der den Geruch von Krankheit nicht zu überdecken vermochte. Gelegentlich
hörten sie ein leises Zischen, wenn sich die Aufzugtüren öffneten und wieder schlossen.
Dann begann der Regen sanft gegen die Scheiben zu plätschern.
Tate döste, ihr Kopf lag an Matthews Schulter. Doch sie war wach und spürte sofort, als sich sein Körper verkrampfte. Als sie den Arzt auf sich zukommen sah, griff sie instinktiv nach Matthews Hand.
Der Arzt näherte sich leise, ein überraschend junger Mann mit tiefen Erschöpfungsfalten um Augen und Mund. Seine dunkle Haut schimmerte matt wie Seide.
»Mr. Lassiter.« Trotz seiner offenkundigen Müdigkeit klang seine Stimme so melodisch wie der Abendregen.
»Das bin ich.« Matthew machte sich auf Beileidsbekundungen gefasst und stand auf.
»Ich bin Doktor Farrge. Ihr Onkel hat die Operation überstanden. Bitte nehmen Sie Platz.«
»Was meinen Sie mit überstanden?«
»Er hat sie überlebt.« Farrge ließ sich auf die Kante des Tischchens nieder und wartete darauf, dass Matthew sich ebenfalls setzte. »Sein Zustand ist nach wie vor kritisch. Wie Sie wissen, hat er viel Blut verloren. Wenn er nur noch ein wenig mehr verloren hätte oder zehn Minuten später bei uns eingetroffen wäre, hätte
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