Der Ruf der Wellen: Roman (German Edition)
kaum, dass sie aufgetaucht waren. Tates Gesicht war kreideweiß, und sie verdrehte die Augen. Matthew schlug ihr zweimal kurz ins Gesicht, bis sie wieder zu sich kam. »Geh auf das verdammte Boot! Hol den Anker ein. Sofort!«
Sie nickte und schwamm schluchzend mit unsicheren Bewegungen weiter, während er erneut tauchte. Ihre Hände glitten immer wieder von der Leiter ab, und sie hatte vergessen, ihre Flossen auszuziehen. Tate war zu schwach, um lautstark nach ihrer Mutter zu rufen. Marla hatte das Radio eingeschaltet, aus dem Madonna mit kräftiger Stimme ihre Jungfräulichkeit besang.
Tate warf ihre Sauerstoffflaschen an Bord, und der Lärm ließ Marla von der Steuerbordseite herbeieilen. Sofort ging sie neben Tate in die Hocke.
»Mom! Ein Hai!« Tate ließ sich auf Hände und Knie nieder und spuckte Wasser. »Buck. Oh Gott.«
»Geht es dir gut?« Marlas Stimme klang schrill. »Schatz, ist alles in Ordnung?«
»Er hat Buck erwischt. Krankenhaus … Er muss ins Krankenhaus ! Hol den Anker ein, schnell!«
»Und Ray? Tate! Was ist mit deinem Vater?«
»Es geht ihm gut. Beeil dich! Gib per Funk auf der Insel Bescheid.«
Während Marla ins Steuerhaus rannte, richtete Tate sich auf. Sie schnallte ihren Gürtel los und wandte die Augen von ihren blutbeschmierten Händen ab. Dann stand sie auf, schwankte und biss sich auf die Lippen, um nicht in Ohnmacht
zu fallen. Während sie zur Reling rannte, zerrte sie an ihrem Anzug.
»Er lebt!« Ray griff nach der Leiter. Gemeinsam mit Matthew hievte er Buck aus dem Wasser. »Hilf uns, ihn an Bord zu bringen.« Als Matthew Tate ansah, spiegelten sich Schrecken und Schmerz in seinen Augen. »Reiß dich zusammen, Liebling.«
Als sie Bucks leblosen Körper an Bord gezogen hatten, sah sie, wovor er sie gewarnt hatte. Der Hai hatte Bucks Bein unterhalb des Knies abgetrennt.
Übelkeit stieg in ihr auf. Wütend schluckte sie und biss die Zähne zusammen, bis sie den Brechreiz und das Schwindelgefühl unter Kontrolle hatte. Sie hörte ihre Mutter nach Luft schnappen, aber als sie sich umdrehte, hatte Marla bereits die Initiative ergriffen.
»Wir brauchen Decken und Handtücher, Tate! Viele Handtücher. Schnell! Und den Erste-Hilfe-Kasten. Ray, ich habe schon per Funk um Hilfe gebeten. Sie erwarten uns in Frigate Bay. Übernimm du das Steuer.« Sie zog ihre Bluse aus, unter der sie einen weißen Spitzen-BH trug. Ohne zu zögern, versuchte sie mit der frisch gebügelten weißen Baumwolle die Blutung am Stumpf von Bucks Bein zu stoppen.
»Gutes Mädchen«, murmelte sie, als Tate mit einem Arm voll Handtüchern zurückkam. »Matthew, leg die Handtücher um die Wunde. Press sie fest dagegen. Matthew!« Ihre Stimme blieb gelassen, klang aber entschlossen genug, um ihn aufblicken zu lassen. »Er braucht jetzt starken Druck gegen sein Bein, verstehst du mich? Wir werden ihn nicht verbluten lassen.«
»Er lebt noch«, sagte Matthew dumpf, als Marla seine Hände nahm und sie gegen die Handtücher drückte, die sie um die Wunde gewickelt hatte. Auf dem Deck hatte sich bereits eine Blutlache angesammelt.
»Richtig, er ist nicht tot. Und er stirbt auch nicht. Er braucht eine Aderpresse!« Ihre Augen brannten, als sie
bemerkte, dass Buck immer noch seine linke Flosse trug, aber ihre Hände arbeiteten schnell und konzentriert und zitterten auch nicht, als sie die Aderpresse über dem blutigen Stumpf anlegte.
»Wir müssen ihn warm halten«, erklärte sie ruhig. »In ein paar Minuten ist er im Krankenhaus. Es dauert nicht mehr lange.«
Tate deckte Buck mit einer Decke zu, kniete sich in die Blutlache und hielt seine Hand. Dann griff sie nach Matthews Hand, umklammerte beide und ließ sie nicht mehr los, während das Boot auf die Insel zusteuerte.
Siebtes Kapitel
M atthew kauerte im Flur des Krankenhauses auf dem Fußboden und versuchte, seine Gedanken auszublenden. Sobald seine Konzentration für einen Augenblick nachließ, sah er wieder den blutigen Strudel im Wasser, die starren Augen des Hais und seine spitzen Zähne, die sich in Bucks Körper gruben.
Ihm war klar, dass er diese Bilder noch hundert-, wenn nicht gar tausendmal im Schlaf vor sich sehen würde – die von Luftblasen erstickten Schreie, das sich hin und her werfende Tier und der Leib seines Onkels, die Klinge seines Messers, die immer wieder zustieß und sich in den Hai bohrte.
Jedes Mal, wenn sich die Szene vor seinem inneren Auge abspielte, dehnten sich die wenigen Minuten zu Stunden, und jede Bewegung verlangsamte
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