Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
an. Die schreckliche Wunde an ihrer Schulter schien schon nicht mehr so stark zu bluten. Irgendwo hörte er eilige Schritte. »Nun, John Staunton, sie kommen, und es gibt nur einen Weg hier heraus. Du musst mir vertrauen.« Sie setzte sich dicht neben ihn und presste ihren Körper gegen seinen. Selbst in seinem geschwächten Zustand fühlte er ihre Wärme, das pochende, vibrierende Leben, das sie immer zu umgeben schien, ihr Zimtduft. Ein kurzes Aufflackern von Furcht durchschoss ihn, als ihm bewusst wurde, dass sie wie Asharti roch und sogar, auf verdrehte Weise, wie Quintoc. Und das lag nicht daran, dass sie alle das gleiche Parfum benutzten.
»Nein, nein«, beruhigte sie ihn, als sie spürte, dass er erstarrte. »Lass mich dich festhalten.« Sie zog ihn eng an sich, drückte ihn an ihre blutende Schulter. John fühlte, wir sich ihr warmes Blut mit seinem vermischte. »Es wird ein wenig wehtun, wenn wir uns entfernen«, murmelte sie.
Er entspannte sich wieder, er wusste nicht genau, warum es so war. Die Vibrationen, die sie zu umgeben schienen, wurden stärker. Die Zelle war erfüllt von einem roten Dunst. Er sah Quintocs kopflosen Rumpf und den Kopf, der ihn in blindem Schrecken aus der Ecke anstarrte. Da war die vertraute Fackel, jetzt blutrot, und der schwere Tisch. Dann wurde der rote Dunst dunkler. Die Vibrationen wurden fast unerträglich. Durch die Tür, die schief in ihren Angeln hing, kam LeFèvre gestürmt, und bei ihm waren drei Männer. Wie konnte der Mann noch leben, da ihm doch die Kehle zerfetzt worden war? Die Zelle wurde fast schwarz. Die Vibrationen drangen in eine Region fast jenseits des Bewusstseins vor. Ein stechender Schmerz durchflutete John. Er schrie auf. Es war, als würde sein Innerstes nach außen gekehrt, und ihm schwanden die Sinne.
Beatrix versetzte sich und John in den Wald von Givenchy, der zwei, vielleicht drei Kilometer vom Schloss entfernt lag. Ein starker Wind strich über ihnen durch die Kronen der Eichen und Birken, aber darunter war alles still in der weichen, modrigen Feuchte der Blätter vom letzten Herbst, die wie ein Kissen waren.
Beatrix schaute auf John herunter, der in ihren Armen lag. Er hatte das Bewusstsein verloren. Das war gut so, denn sie würde die Macht wieder und wieder beschwören müssen, um ihn von hier fortzubekommen. Sie machte sich keine Sorgen, weil sie LeFèvre am Leben gelassen hatte, aber Asharti konnte jederzeit zurückkehren, und Beatrix wusste nur zu gut, was für eine hinterlistige und unbarmherzige Gegnerin Asharti sein konnte. Jeder Gedanke daran, Asharti gegenüberzutreten, wurde verbannt. Beatrix musste John irgendwohin bringen, wo er vor Asharti sicher war.
Sie musste darüber nachdenken, was sie mit einem nackten, blutenden Mann tun sollte, mitten in einem Land, in dem ihre Widersacherin ebenso über politischen wie über persönlichen Einfluss verfügte. Ihre Gedanken gerieten dank des Schmerzes durch ihre Verletzungen ein wenig durcheinander. Ein Landgasthaus, eine Taverne; vielleicht eine mit einem Stall dabei, abseits gelegen, aber nicht zu weit weg. Der Gefährte würde ihre Wunden bald geheilt haben. Aber ihre Translokationskraft war jetzt begrenzt, besonders da sie John bei sich hatte. Sie stellte sich die Umgebung von Chantilly vor, die sie sich auf der Landkarte eingeprägt hatte. Neuilly-en-Theille? Nicht die schlechteste Zuflucht, aber auch nicht die beste. Sie entschied sich dafür. Sie musste dort ein Gasthaus finden und John vorerst im Stall zurücklassen. Dann mit John in das Zimmer translozieren, das sie gemietet hatte. Kleidung. Er würde Kleider brauchen, mochten sie noch so derb und einfach sein. Sie würde sie stehlen oder aber einem Bauern oder Gast von etwa derselben Größe abschwatzen müssen.
Ihr wurde bewusst, dass sie den bewusstlosen Mann leicht in den Armen wiegte. Sein Atem klang hohl an ihrer Brust. Sie musste ihn von seinen Ketten befreien. Ketten würden Verdacht erregen, und sie waren zudem eine Last bei der Translokation. Als sie ihn wieder auf das weiche Lager des Waldbodens bettete, hörte sie das Rascheln eines Hasen im Dickicht und etwas weiter entfernt einen Fuchs auf Beutezug. Das Laub über ihr ließ kein Mondlicht durch. Dennoch konnte sie John deutlich sehen. Es war lange her, dass sie das Werk von Ashartis Händen gesehen hatte. Scham erfüllte sie, wenn sie daran dachte, dass sie an den widerwärtigen Spielen, die Wegbereiter für diesen Schrecken gewesen waren ihren Anteil gehabt hatte.
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