Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
Asharti tötete sie nicht, sondern befreite sie.
Zum ersten Mal seit Jahrhunderten fragte sich Beatrix, ob es ein Leben nach dem Tode gab oder ob sie auf irgendeine Weise an Gott glaubte. Beides war nicht dasselbe. Ein Leben nach dem Tod war ein merkwürdiges Konzept für jemanden, der ebenso gut unsterblich sein könnte. Beim letzten Mal, als sie ein derartiges Selbstgespräch geführt hatte, war sie zu dem Schluss gekommen, dass niemand wissen konnte, ob es einen Gott oder ein Leben nach dem Tod gab, und dass man daher nur so leben konnte, als wäre es so. Sie glaubte, dass man Gutes tun sollte, wenn man es konnte, oder dass man zumindest nichts Böses tun sollte. Sie tötete nicht mehr. Sie hinterließ ihren Opfern schöne oder aufregende Erinnerungen dafür, dass sie ihr Blut trank. Sie sorgte dafür, dass Einflüsse, die das Beste aus den Menschen herausholten, Kunst und Musik und Literatur, blühten, wo ihr Geld oder ihr Einfluss sie fördern konnte. Sie gab beträchtliche Summen für wohltätige Zwecke aus, auch wenn die Waisenhäuser und Hospitäler kaum an der Oberfläche des Elends in der Welt ankratzten.
Hätte sie früher nach Mirso gehen sollen? War ein Leben der inneren Einkehr mehr wert als ein weltlich geführtes Leben? Vielleicht hatte die Welt recht, und Gott konnte, falls er denn existierte, niemals einen Vampir lieben. Beatrix fühlte sich nicht als Abkömmling Satans, obwohl sie gewiss mit ihm sympathisierte. Die Welt hasste ihn zu sehr, als dass er all ihren Hass verdiente.
Am Ende war das Karussell ihrer Gedanken so wenig zielführend wie immer. Man pfuschte so vor sich hin, tat das Beste, was man tun konnte, bis es endete. Für sie würde es enden. Lag darin keine Erleichterung? Sie war von ihrer Mutter zurückgewiesen worden. Stephan hatte sie zurückgewiesen. John hielt sie für ein Ungeheuer. So oft verlassen zu werden bedeutete, dass sie wertlos war. Vielleicht war es das, was ihre Erinnerungen ihr hatten sagen wollen. Der Tod hatte angeklopft, und nur der Gefährte hatte ihm die Tür versperrt. Asharti würde nicht zulassen, dass er die Tür noch länger verschlossen hielt.
Sie hoffte, dass John hatte fliehen können. Vielleicht kam er mit dem ewigen Leben besser zurecht als sie. Er sah den Gefährten nicht als Geschenk an. Aber vielleicht würde er es irgendwann tun und vielleicht würde er seine Macht nutzen, um diese Welt in eine bessere zu verwandeln.
Ein Geräusch auf dem Gang. Es war eine der Frauen mit dem Essen, das sie nicht anrühren würde. Sie konnte ihre Angst spüren. Die Wachen wichen zurück ins Dunkel.
Beatrix schaute auf. Es war die jüngste der Frauen. Sie hielt zitternd eine Lampe hoch und schaute sie nervös an. Sie schob den Metallteller durch den schmalen Schlitz unterhalb der Gitterstäbe. Er glitt über den Stein.
»Hier, Mylady.« Ihre Stimme schwankte, dann wurde sie fester. »Achten Sie besonders hierauf. Dieses Brot wurde mit Liebe gebacken.« Das Mädchen nickte mit durchdringendem Blick, dann wandte es sich um und hastete davon.
Mit Liebe gebacken? Beatrix ließ den Kopf gegen die Mauer zurücksinken. Erschöpfung überfiel sie. Mit Liebe gebacken! Diese Frauen liebten sie nicht. Niemand liebte sie.
Sie schaute auf das Brot. Eine Spur von Neugier erwachte in ihr. Es konnte nicht sein. Dennoch richtete sie sich auf. Auf dem verbeulten Teller aus Metall lagen ein kleiner dicker Brotlaib, ein Stück Käse und … ein Granatapfel. Ein leichtes Flattern in ihrem Bauch hieß sie aufstehen. Nicht der alte Trick mit dem Granatapfel … Beatrix atmete tief durch, um sich zu fassen. Sie griff nach dem Teller, setzte sich auf die Steinbank und sah sich verstohlen um. Einer ihrer schweigsamen Wärter lehnte auf dem Gang an der gegenüberliegenden Wand und kämmte sich seine eleganten Koteletten. Seine Augen schimmerten rötlich, aber er achtete nicht auf Beatrix.
Sie brach das Brot und hörte das Knistern von Papier. Sie zog einen Zettel heraus und verbarg ihn in den Falten ihres Rockes, dann begann sie, ruhig das Brot und den Käse zu essen, während ihr Herz wie wild schlug. Sie brach den Granatapfel auf, prüfte einen Kern mit dem Fingernagel und sah, wie der blutrote Saft vom Brot aufgesogen wurde. Die Wachen wurden abgelöst. Rote Augen wurden ersetzt durch rote Augen. Der neue Wächter stand ein wenig seitwärts. Beatrix rutschte weiter zum Ende der Bank und entfaltete das Papier neben ihrem Oberschenkel, wo er es nicht sehen konnte.
Sag mir, wie ich
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