Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
dir zur Flucht verhelfen kann, Liebste. Ich stehe zu deiner Verfügung. Wirf deine Anweisungen in den Hof hinunter.
John
Die ersten Tränen, seit sie gefangen genommen worden war, tropften auf das Papier. Er mochte ihr nicht dafür vergeben haben, dass sie ihn geschaffen hatte, aber er hatte sie nicht verlassen. Das berührte sie, und es machte ihr Angst. Angst um ihn. Für sie gab es keine Hilfe. Er musste fort.
Sie steckte sich einen Granatapfelkern in den Mund. Mit dem Daumennagel zerteilte sie einen zweiten und begann, mit dem Saft der Frucht ihre Antwort zu schreiben. Es dauerte lange. Als sie fertig war, drehte sie das Papier zu einer festen Rolle zusammen und stand auf, um an das vergitterte Fenster zu treten. Ihr Pompadour baumelte an ihrem Handgelenk. Sofort trat John unter dem einzigen Baum des winzigen Hofes unterhalb der Zelle hervor. Ihr Herz machte einen Hopser. Dieses Risiko war viel zu groß! Wie hatte er es wagen können hierherzukommen? Sein liebes Gesicht, das zu ihr hochstarrte, gut aussehend und besorgt, ließ sie innerlich mehr zittern, als Asharti und ihre Vampirwächter es zu bewirken vermocht hatten. Sie lehnte den Kopf gegen die Stäbe und ließ die Papierrolle aus dem Fenster fallen, gefolgt von ihrem Pompadour.
Sie sah, wie John sich umschaute, beides aufhob und zurück unter den Baum trat. Sie wusste, was er jetzt las, geschrieben in hellrotem Saft mit ihrem Fingernagel.
Es gibt nichts zu tun. Alles Gute. Nimm dies. Begib dich in Sicherheit nach England.
Beatrix
Er schaute hoch und schüttelte den Kopf, seine Miene voller Furcht.
Sie lächelte, sanft. Bedeutete sie ihm etwas? »Liebste.« Das hatte auf dem Zettel gestanden. Sie würde Trost daraus schöpfen. Sie schüttelte den Kopf bedächtig, dann schob sie die Hand durch die Stäbe, um ihn zu grüßen. Einmal. Dann wandte sie sich vom Fenster ab und kehrte auf ihren Platz auf der Bank zurück. Sie wollte nicht, dass Ashartis Handlanger ihr Schluchzen bemerkten. Sie zog ihren Umhang um sich und unterdrückte es.
Verzweifelt sah John, wie Beatrix vom Fenster verschwand. Nichts? Nichts, was getan werden konnte? Er wollte das nicht glauben. Er würde nicht von hier fortgehen, bis sie ihm sagte, was zu tun war, um sie zu befreien. Er fasste den Pompadour fester und harrte im Schutz des Baumes aus. Aber nach fast einer Stunde, in der er sie mit seinen Gedanken hatte zwingen wollen, mit einer anderen Nachricht zurück zum Fenster zu kommen, begann er zu verzweifeln. Ihm wurde bewusst, dass er noch immer den perlenbestickten Pompadour umklammerte, den sie ihm heruntergeworfen hatte. Vielleicht befand sich darin eine weitere Nachricht. Er zwang sich, ihn langsam zu öffnen, damit seine neu gewonnene Kraft den Stoff nicht zerriss. Er fand darin Banknoten einer Pariser Bank in Höhe eines kleinen Vermögens. Was kümmerte ihn Geld? Es waren zudem zwei Rollen Goldlouisdors und eine Brille dabei, aus Glas, das so dunkel war, dass es fast schwarz aussah. Er zog die Augenbrauen zusammen. Sie wollte, dass er das Geld dazu verwendete, Frankreich zu verlassen. Er umklammerte den kleinen Beutel mit so viel Kraft, dass seine Fingernägel sich in die Innenfläche seiner Hand bohrten. Er konnte das Blut riechen, das aus den Wunden quoll.
Über sich hörte er eine allzu vertraute Stimme. Unwillkürlich schauderte es ihn.
»Nun, meine Schwester, wie hat dir dein erster Tag in einer sonnigen Zelle gefallen?«
»Ich war schon besser untergebracht.« Beatrix’ Stimme klang trotzig. Er liebte sie dafür.
»Wir werden dir diesen Umhang abnehmen müssen. Ah, du hast geweint … Wie traurig. Und du hast gesagt, du hättest dich in dein Schicksal ergeben. Aber ich sehe, dass du deine Meinung geändert hast.«
Schweigen. Dann tauchte Asharti am Fenster auf, die Augen glühten rot. John glitt zurück hinter den Baumstamm. Er konnte das verhasste Gesicht in der Dunkelheit gut erkennen. »Ich spürte da draußen eine Vibration«, sagte Asharti, während sie den Blick über den Hof schweifen ließ.
Er musste verschwinden. Wenn er jetzt gefangen genommen wurde, wäre das eine Katastrophe für Beatrix. Er holte tief Luft. Gefährte, komm zu mir. Schnell.
Die Schwärze stieg wirbelnd um ihn auf. Er dachte an die Straße unterhalb der Turmuhr. Der Schmerz kam schnell diesmal und wurde zu einem ohrenbetäubenden Kreischen. John stieß gegen einen Laternenmast auf dem Quai de l’Horloge, genau in dem Moment, als die große Uhr vier schlug. Der Fluss und die
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