Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
es war, er beherrschte sie nicht. Das war offensichtlich. Vielleicht war Beatrix verletzt und konnte deshalb nicht die Schwärze herbeirufen. Sein Magen hob sich. Was konnte jemanden verletzen, dessen Wunden so rasch verheilten wie bei Beatrix? Doch irgendetwas stimmte nicht. Beatrix war gefangen. Konnte es sein, dass sie geschwächt war, weil sie ihm ihr Blut gegeben hatte? Die Luft, die er einatmete, schmerzte fast vor Schuldgefühlen.
In Ordnung. Sie mochte eingekerkert sein, weil sie schwach war. Und das war womöglich seine Schuld. Das konnte seinen Entschluss nur festigen. Aber wie sie finden inmitten all dieser Mauern? Die Bürokraten in Bonapartes Regime herrschten hinter der imposanten Fassade, die zur Seine zeigte und schweigend in die Nacht aufragte. Würde Beatrix in einem der Verliese sein? Dort wurden die meisten Gefangenen untergebracht. Aber Marie Antoinette war ihrem Tod von einer Zelle aus entgegengegangen, von der aus man auf einen kleinen Hof hatte sehen können. Gerüchte besagten, dass die Königin dort noch immer umging. Manch einer behauptete, dass ihre Schreie noch immer zu hören seien. Beatrix konnte dort sein. Wie sollte er sie finden? Er bog in die Rue de l’Harlay ein und hielt auf den Quai des Orfèvres zu.
Auf der Straße war es ruhig. Hier waren keine Wachen. Einige Fensterbögen in der Fassade reichten mehrere Stockwerke weit hinauf, doch die Fenster selbst waren mit Metallstäben gesichert. Selbst wenn er eines davon erreichen könnte und seine neue Kraft anwandte, die Stäbe herauszubrechen, würde das sehr viel Lärm verursachen.
Er schaute an der endlos langen Mauer entlang und dann wieder hinauf in die Nacht, dorthin, wo der graue Stein vor dem schwarzen Nachthimmel aufhörte. Also gut. Es gab einen Weg hinein, der ganz und gar kein Aufsehen erregen würde. Er atmete einmal tief durch.
Er senkte den Kopf. Gefährte! Das Aufbranden von Macht in seinen Adern erschreckte ihn. War er so leicht zu rufen? Es war fast, als spräche er mit sich selbst. Er erinnerte sich daran, dass Beatrix gesagt hatte, sie seien zwei in einem, und er würde nie wieder allein sein. Vielleicht sprach er wirklich mit sich selbst. Er wappnete sich gegen diesen Gedanken. Beatrix brauchte ihn. Gefährte, komm zu mir. Ein roter Nebel senkte sich über seine Augen. John versuchte, nicht in Panik zu geraten. Gib mir genug Kraft für die Dunkelheit . Die Vibration von Leben in ihm steigerte sich. Er begann am ganzen Leib zu beben, bis es ihn fast schmerzte. Schwärze wirbelte um ihn herum, bis auch die Mauer der Conciergerie in Finsternis gehüllt war. Ein Klageruf tönte von irgendwo auf, als die Vibrationen die Skala des Erträglichen hinaufschnellten. Er kam aus seiner Kehle. Ein stechender Schmerz durchfuhr John. Es war, als würde sich sein Inneres nach außen kehren.
Dann war alles vorüber, der Schmerz, das Vibrieren, das Gellen, alles. Dunkelheit strömte über ihn hin wie ein Regenschauer, bis sie wie eine verdunstende Lache um ihn her wieder zu Boden sank … Wo war er? Desorientiert sah John sich um. Der Geruch von Blut nahm ihm fast den Atem. Dunkle, gestaltlose Formen schwebten in der Dunkelheit um ihn herum. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er eine Hand zu dem formlosen Ding ausstreckte, das ihm am nächsten war, und kalte Glätte berührte. Das Ding schwang mit dem Klirren einer Kette zur Seite. Für einen kurzen Moment konnte er sich nicht einmal vorstellen, welchen Schrecken er berührt haben mochte. Dann begriff er. Es war ein Kadaver. Er befand sich in einer Vorratskammer. Er holte Luft. Eine Vorratskammer, um die Gefangenen zu versorgen, oder die Leute, die hier arbeiteten, oder beides. Das war alles.
Jetzt galt es, Beatrix zu finden. Von irgendwoher hörte er Stimmen. Ein schmaler Lichtstreif auf Bodenhöhe wies ihm den Weg zur Tür. Das Schloss an der Außenseite war für seine Bärenkräfte kein Hindernis. Das Metall quietschte einmal, und ergab sich dann. Er blieb stehen und wartete ab, aber die Stimmen sprachen weiter.
Er glitt auf den Korridor hinaus, von dem andere Türen aus Holz abgingen. Rübenkeller, Milchkammer, eine Kammer, in der Gepökeltes lagerte, den Gerüchen nach zu urteilen. Am Ende des Ganges war ein Torbogen. Er ging darauf zu, hielt sich dabei aber dicht bei der Wand. Er spähte durch den Torbogen und sah einen weiteren Korridor vor sich. An dessen Ende befand sich ebenfalls ein Torbogen, aus dem Licht fiel. Die Stimmen kamen von dort und waren jetzt
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