Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
würde? Sie hatte so viele, viele Jahre gelebt. Es tat ihr leid, dass es in all der Zeit nur flüchtige Momente mit John gegeben hatte. Wenn sie hätte bewirken können, dass er sie liebte … wenn er nicht gewusst hätte, wer sie war … wenn er Asharti nicht verfolgt hätte oder nicht mit dem Gefährten infiziert worden wäre … Er war gekommen, um sie zu retten – aus seinem angeborenen Ehrgefühl heraus, obwohl sie ihn zu einem Ungeheuer gemacht hatte; aber nicht, weil er sie liebte. Man konnte niemanden zur Liebe zwingen, zumindest sie konnte es nicht. Sie hatte ihre Mutter nicht dazu bringen können, sie zu lieben. Und auch Stephan nicht. Sie hatte gelernt, faszinierend zu sein. Aber Liebe? Wahre Liebe konnte man nicht erzwingen. Man musste sie wert sein.
»Bist du bereit, deinem Schöpfer entgegenzutreten?«
Ashartis höhnische Stimme riss Beatrix abrupt zurück in die Gegenwart. Asharti stand in der Tür zum Zellentrakt, gekleidet in ein altgoldenfarbenes Brokatkleid mit hoher Taille und einer schweren Schleppe, die an den Schultern ansetzte. Ihre Schuhe enthüllten goldbemalte Fußnägel. Sie trug einen Fächer mit schwarzen, herumwirbelnden Figuren aus Gold darauf, den sie jetzt, als sie ins Licht trat, mit einem leisen Klicken schloss. Sie hatte John nicht mitgebracht. Beatrix war darüber ebenso verzweifelt wie erleichtert. Sie starrte auf Ashartis selbstzufriedenes Lächeln und sagte: »So bereit, wie man nur sein kann.« Ihre Stimme klang fester, als sie sich fühlte.
»Auf den Karren mit dir.« Asharti winkte einem der Vampire, der das Schloss der Gittertür öffnete.
Asharti ging kein Risiko ein. Sie fügte ihre Macht den fünf roten Augenpaaren hinzu. Einer von ihnen war Jerry, der nach jener ersten Nacht seiner Rückkehr kein Wort mehr mit Beatrix gesprochen hatte. Beatrix fühlte, wie dieser Ansturm der Macht sie erstarren ließ. Das war gut. Sie banden ihre Hände mit groben Stricken, als ob das nötig wäre, und Jerry legte eine locker gebundene Schlaufe aus Hanf um ihren Hals, an der sie geführt werden konnte. Wie im Traum bewegte sie sich vorwärts, weil sie es so wollten. Sie spürte unter ihren nackten Füßen den Steinboden nicht. Die Mauern um sie herum schwankten. Von irgendwoher hörte Beatrix ein dumpfes Brüllen. Als sie die Flure des Gefängnisses entlanggingen, wurde das Geräusch lauter. Jetzt gingen sie unter den gotischen Torbögen der großen Halle hindurch, und das Geräusch wurde zum Johlen einer Menschenmenge. Ashartis Wächter zogen sich die Kapuzen ihrer Umhänge über den Kopf. Sie wollen ihre roten Augen vor den Leuten verbergen, dachte Beatrix ruhig und wie aus großer Distanz. Riesige Holztore öffneten sich dem Höllenlärm.
Verzerrte Gesichter riefen nach ihrem Kopf oder schrien, dass sie ausgepeitscht werden sollte, oder machten andere, schlimmere Vorschläge. Männer und Frauen, einige mit Säuglingen auf dem Arm, Kinder und tatterige alte Weiber, die ganze Menschheit in all ihrer hässlichen Vielfalt, drängten gegen eine schmale Reihe von Gendarmen und Soldaten. Der Gestank war bestialisch: ungewaschene Körper, Zwiebeln und Knoblauch, die Säure von Urin, der Rauch von Fackeln, die vereinzelt in der Menge brannten, und über allem der schwache süßliche Geruch von Regen, der in einem Schauer vor Kurzem niedergegangen war. Im Zentrum dieses Chaos stand ein grob gezimmerter Karren, vor den ein bockendes Pferd gespannt war. Der Junge, der es am Halfter hielt, schrie es an, ruhig zu sein, und erzielte damit den gegenteiligen Effekt. Es war ein Albtraum aus brutaler Emotion und flackerndem Licht.
Eine Brise von irgendwoher ließ die Fackelflammen auflodern. Beatrix zitterte. Sie trug nur ihr dünnes Hemd. Einige der Zurufe von Männern wurden obszöner. Asharti würde ihnen allen ein Schauspiel bieten, das war sicher. Asharti richtete ihre Aufmerksamkeit kurz auf das stämmige Kaltblut vor dem Karren. Das Tier beruhigte sich sofort.
Einer der Vampire sprang auf den Karren und zerrte an Beatrix’ Fesseln. Der Strick wurde an der Rückseite der Bank festgebunden, auf der der Kutscher hockte. Die Vampire stellten sich zu beiden Seiten des Gefährts auf. Asharti ging ihnen voran. Sie sah aus wie eine Herrscherin, was sie in der Tat in allem war, vom Titel einmal abgesehen. Ein Trommler mit einer großen Basstrommel und ein Flötenspieler begannen, ein Leichenlied zu spielen. Es war durch den Aufschrei der erregten Menge hindurch kaum zu hören, als der Karren
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