Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
verzierte Fassade von Bessborough House kam in Sicht. Er holte tief Luft. Er hatte nichts verraten. Aber er war nachlässig gewesen, weil er sich auf heimatlichem Boden befand. Es würde ohne Bedeutung sein. Er würde bald nach Portsmouth abreisen. Er würde sie nicht wiedersehen.
Und doch … Hatte er nicht die Pflicht herauszufinden, ob sie eine Spionin war – herauszufinden, wer ihre französischen Kontaktpersonen waren? Er würde sich ihrer Prüfung unterziehen. Aber er war vorgewarnt. Und sie hatte ihn unterschätzt. Das war sein Vorteil. Nun, wo konnte er sie als Nächstes treffen? Er verdrängte das leichte Prickeln in seinen Lenden, das diesen Gedanken begleitete.
Beatrix verbrachte einen schlaflosen Tag, weil ihre irritierten Nerven wie elektrisiert waren. Sie brauchte kein Blut, aber irgendetwas brauchte sie. Ihr alter Freund Shakespeare konnte ihr Interesse nicht fesseln. Sie versuchte es mit einem Buch von jener neuen Frau, über die jeder sprach. Austen. Ihr klarer und humorvoller Blick auf die Menschen und die Gesellschaft amüsierte Beatrix fast eine ganze Stunde lang. Sie schrieb einen Brief, in dem sie anbot, jenen Künstler namens Constable zu fördern. Er malte das Licht wie kein anderer außer Turner und hatte dennoch nicht die Anerkennung dieser verdammten Königlichen Akademie erlangen können. Sie glaubte nicht länger daran, dass Kunst die Welt retten könnte. Aber einige Dinge mussten gemalt, geschrieben, getanzt oder gesungen werden, und sie konnte dafür sorgen, dass dies einigen begabten Individuen ermöglicht wurde. Sie versuchte, nicht daran zu denken, was gestern Abend in Bessborough House geschehen war. Außer Kontrolle. Am Abgrund. Vor aller Augen.
Und sie hatte keine Ahnung warum. Was verursachte dieses Gefühl, dass eine große Dunkelheit ihrer harrte? War Wahnsinn für ihresgleichen unausweichlich? Das war der Zweck des Klosters Mirso: den Wahnsinn abzuwehren. Vielleicht war Mirso alles, was ihr geblieben war. Aber sie war noch nicht bereit, sich ganz und gar von der Welt zurückzuziehen. Und warum nicht? Was bedeutete ihr die Welt? Wenn sie ein paar Bücher mitnehmen könnte, ein paar Gemälde – warum sollte sie es nicht gleich morgen tun?
Weil dann Asharti über sie gesiegt hätte.
Das war es, warum sie mit der Dunkelheit rang. Sie ging vom Bett zum Frisiertisch und wieder zurück. Sie brauchte etwas außer dieser Dunkelheit, auf das sie sich konzentrieren konnte.
Die Antwort darauf hatte einen Namen. Langley. Es war gefährlich, angesichts der Gefühle, die er in ihr weckte, überhaupt an ihn heranzutreten. Aber ein Interesse an irgendetwas schien die Erinnerungsfetzen, die aufblitzten, zu besänftigen. Was sollte sie als Nächstes unternehmen? Indem sie ihn in den Dienstagssalon einlud, gab sie zu, dass es sie nach seiner Gesellschaft verlangte. Tat sie es nicht, würde sie ihn frühestens am Mittwoch bei den Hartfords sehen, und nicht einmal das war gewiss.
Sie läutete nach Symington. Sie hatte ihn vor Jahren in London eingestellt, und er hatte sie nach Amsterdam und nach Wien begleitet. Er war der Einzige, der ihre Geheimnisse kannte. Sie bezahlte ihn gut für seine Fähigkeit zu organisieren. Als Gegenleistung unterdrückte er sein Entsetzen über ihre Natur. Jetzt war er alt und irgendwie … ihr Tröster geworden. Er erschien und verbeugte sich. Ob er noch immer Entsetzen empfand?
»Ich möchte mehr über Langley wissen«, sagte sie.
Der alte Mann schwieg. Sie konnte sehen, wie er in seinem Kopf Informationen sortierte. Sein Wissensvorrat war unerschöpflich, und weil er seit bereits einem Monat wieder in London war, würde er über jeden und alles etwas zu berichten haben. »Bekannt dafür, arm zu sein«, sagte er ohne jede Umschweife. »Der Vater hat verspielt, was an Vermögen übrig geblieben war, nachdem schon der Großvater seinen verschwenderischen Neigungen nachgegeben hatte. Das Familienanwesen soll bis unters Dach mit Hypotheken belastet sein. Die Mutter wurde nach dem frühen Tod ihrer übrigen Kinder geisteskrank. Sie starb vor zwanzig Jahren. Er ist das einzige legitime Kind. Vor sechs Jahren ist der Titel an ihn gefallen. Eine früh arrangierte Heirat kam nicht zustande, weil die fragliche junge Dame mit einem anderen durchbrannte. Der Vater hatte auf die Mitgift gebaut – und den Sohn danach praktisch enterbt. Er fing an, über die Stränge zu schlagen. Eine Affäre mit seiner Halbschwester, die –«
»Ja, ja.« Beatrix wedelte ungeduldig mit
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