Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
Gedanken zu Langley zurück. Nun, wie also ihn wiedersehen? Heute Abend war sie mit dem Premierminister verabredet. Der Prinzregent würde anwesend sein. Die beiden Männer versuchten, sich zusammenzuraufen. Sollte der alte König sterben, würde der Prinzregent, das wusste jeder, alle Minister eiligst gegen neue austauschen. Aber für den Fall, dass der König sich erholte, mussten sie sich zumindest den Anschein geben, gut miteinander auszukommen. Sie würde dort vermutlich die einzige Frau außer Mrs. Fitzherbert sein. Das konnte spaßig werden, einmal abgesehen von der Tatsache, dass eine bestimmte Person nicht dort sein würde.
Beatrix zwang sich, sich hinzulegen. Montag war noch früh genug, ihm eine Einladung für die nächste Soiree zu schicken. Er musste denken, seine Einladung sei ein nachträglicher Einfall. Wohin reiste er wohl für einen ganzen Monat? Er war nicht so schlecht, wie er es glauben machte. Warum ermutigte er alle Welt, ihn in einem falschen Licht zu sehen? Sie hatte seine Zuverlässigkeit erlebt. Sie glaubte nicht, dass sie sich irrte.
Aber sie hatte sich schon früher in Menschen getäuscht. In Stephan zum Beispiel. In Asharti …
Amsterdam, 1101
Beatrix stieß den Flegel mit einem Knurren von sich, das eher tierisch denn menschlich klang. Er hatte geglaubt, sie ausnutzen zu können. Sie alle taten das, auf ihre eigenen Kosten. Ich werde dich überraschen, du verdammter Hurensohn, dachte sie. Er taumelte rückwärts. Im Dunkel der Gasse stürzte sie sich auf ihn, stieß ihn in den Schmutz. Ihr zerrissener Schal hing ihr über den Arm. Dieser Ochse musste gut vierzig Kilo schwerer als sie sein. Ehe er sich aufrichten konnte, drängte sie ihn gegen die Mauer; seine Wangen bebten, sein Hosenlatz baumelte herab, Überraschung ließ ihn die glanzlosen Augen weit aufreißen. Sein Kopf schlug gegen die Balken der aus Weidenholz und Lehm erbauten Hauswand. Kraft strömte durch ihre Adern, als der Hunger in ihr erwachte. Sie zog seinen Kopf zu sich herunter. Er schlug um sich, aber natürlich war es zwecklos. Ihre Sicht trübte sich durch den vertrauten roten Schleier. Sein Geruch, beißend von Schweiß und Angst, erfüllte ihre Nase, als sie ihm den Hals aufriss. Seine schrille Totenklage erhob sich über ihr dumpfes Grollen. Zäh floss das Leben aus seiner zerfetzten Kehle über ihre Lippen und ihre Zunge, mehr und mehr. Er wurde still, sackte gegen sie.
Eine starke Hand riss sie zurück. Sie wirbelte herum, knurrte, während der Haufen aus Fleisch hinter ihr zusammensank und zu Boden fiel. Wer wagte es, die Sättigung ihres Hungers zu stören?
Ein Mann hatte sie an den Schultern gepackt. Ein gut aussehender Mann, sauber, hochgewachsen, gekleidet in ein kostbares Kettenhemd und die Rüstung eines Kriegers. Das war alles, was sie sah. Sie wand sich, um ihn wegzustoßen.
»Ruhig«, wisperte er. Seine Stimme hallte in ihrem Bewusstsein wider. Sie wehrte sich, aber seine Arme waren wie Stahl. Niemand war stärker als sie! Zu ihrer Überraschung wurden seine Augen in der Dunkelheit rot.
Sie hielt inne. »Bist du …?« Sie konnte es nicht aussprechen.
Er nickte. »Ich bin wie du.« Er schaute auf den Leichnam hinter ihr. »Und du musst noch viel lernen, mein hübsches wildes Kätzchen.«
Sie starrte ihm ins Gesicht. Wangenknochen. Augen, die jetzt fast schwarz waren, nachdem das Rot daraus verschwunden war. Eine hohe Stirn, eine gerade Nase, ein kantiges Kinn. Lippen. Hatte sie je solche Lippen gesehen? Sein Haar war dunkel und lockte sich um seine Schultern. Er sah … gut aus. Sie wusste, sie würde sein Gesicht niemals vergessen. Sie hatte Angst. Und doch, jemanden zu finden, der wie sie war, jemanden, der davon wusste … Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Er zog sie in seine Arme und barg ihren Kopf an seiner Brust. Er roch wie ihre Mutter, nach Gewürzen, aber doch anders – so ganz und gar männlich. »Mein Name ist Stephan Sincai. Ich werde dich lehren, wer du bist und wie du weiterleben kannst. Ich werde dir den Schmerz nehmen«, wisperte er in ihr Haar.
Und Beatrix wusste, dass sie eine Zuflucht gefunden hatte.
Beatrix bewegte sich unruhig unter ihrer Decke. Er war keine Zuflucht gewesen, natürlich nicht. Aber was hatte sie schon gewusst, mit siebzehn und heimatlos, als sie für das tötete, was sie brauchte, und niemand sie wollte? Außer Stephan. Die Bemerkung, die sie zu Langley über die erste, unkluge Liebe gemacht hatte, kam ihr in den Sinn.
Beatrix zog die Decken
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