Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
hoch und sehnte sich nach der Einfachheit des Schlafes. Wie sehr hatte sie Stephan geliebt! Er hatte sie bei sich aufgenommen und war ihr Lehrer geworden, ihr Mentor, und später dann mehr. Beatrix hatte einst gedacht, Stephan sei ein Anker – jemand, bei dem sie darauf vertrauen konnte, dass er immer da sein würde. Stattdessen hatte er sie die letzte Lektion von ihresgleichen gelehrt; die Lektion, dass nichts von Dauer war.
Ihre Gedanken flogen durch die Jahrhunderte. Die Männer waren gekommen und gegangen. Sie kämpfte Seite an Seite mit dem verdammten Henry bei Agincourt. Da Vinci lehrte sie alles über die Kunst, die sie gerettet hatte. De Sade war interessant, wenn auch nur deshalb, weil er so offen praktizierte, was sie ganz und gar nicht praktizierte. Aber genau genommen hasste er die Frauen, am Ende auch sie. Sie hatte Gemeinsamkeit gesucht, aber niemals eine sexuelle Bindung. Nach Asharti war das zu gefährlich. Astronomen, Maler, Könige, Kaiser, Philosophen, sie hatte sie alle gekannt. Aber am Ende war keiner so wie Stephan gewesen. Sie hatte nach den Gründen gesucht. Sie hatte sich zahllosen Bewegungen angeschlossen, zumindest bis sie in Splittergruppen zerfielen und die Wortklaubereien über die wahre Lehre begannen. All dies führte zu nichts. Nur die Kunst blieb übrig. Kunst organisierte das Chaos und drang vor bis zur Wahrheit. Über Jahrhunderte war die Kunst ihr einziger Trost gewesen. Abgesehen vom Blut.
Das Blut ist das Leben. Stephan hatte gesagt, ihre Gattung wiederhole dies wie ein Mantra, ein Kürzel für das, was sie waren. Der symbiotische Gefährte in ihrem Blut gab ihr Stärke, verlieh ihr Kräfte, die die Menschen für übernatürlich hielten. Aber der Gefährte forderte einen Preis dafür – ein Leben, das ewig währen konnte. Doch zu welchem Zweck? Stephan hatte recht gehabt. Das Blut war alles an Leben, was es gab, und plötzlich schien das nicht mehr genug zu sein.
Burg Sincai, Transsilvanische Alpen, 1102
»Ich bin zurückgekehrt, Kätzchen.«
Beatrix sprang von dem großen, geschnitzten Stuhl auf, der in der hohen Halle des Wohnturms vor dem Kamin stand. Lodernde Flammen schickten Funken in den Schlund des riesigen Rauchabzugs. »Stephan!« Sie warf sich in seine Arme. »Ich dachte, du würdest niemals mehr kommen.«
»Aber, aber, Kind«, murmelte er, als er sie auf Armeslänge von sich weghielt. Seine Rüstung war beschmutzt von der Reise, seine langen dunklen Locken zersaust. Ein eine Woche alter Bart bedeckte sein Kinn. Er sah müde aus, aber seine dunklen Augen brannten vor Energie unter den kühn geschwungenen schwarzen Brauen. »Eine Lady wirft sich dem heimkehrenden Lord nicht in die Arme. Habe ich dich das nicht gelehrt?«
Diener kamen, verbeugten sich, nahmen seinen Umhang entgegen. Beatrix strich den schweren Brokatstoff ihres Kleides über ihren Brüsten glatt und streckte die Arme aus, um den Fall der Ärmel zu zeigen, eng an den Schultern, mit Säumen, die in Aufschlägen ausliefen, welche gut einen halben Meter lang waren. Sie waren mit heller Seide gefüttert; sie passte zu der Seide ihrer Haube, die unter dem Kinn festgebunden war. »Schau, was die Näherin gefertigt hat, Stephan. Bin ich nicht wunderschön?«
»Ja, du bist wunderschön, meine Kleine. Und, könnte ich hinzufügen, kaum noch wild und ungestüm.« Er rief einer der Dienerinnen zu, Honigwein zu bringen. Sie eilte davon, seinen Befehl auszuführen.
Beatrix lächelte. »Ich habe alle deine Lektionen über die Regeln gelernt, Stephan, egal wie langweilig es war. Du hast versprochen, wenn du zurückkommst, würden wir aufregendere Dinge durchnehmen. Wirst du mir zeigen, wie man auf einem Pferd reitet und mit einem Schwert kämpft?«
»Vielleicht«, sagte er. »Aber zuerst musst du jemanden kennenlernen.« Er wandte sich um und winkte hinüber zu dem dunklen Mauerbogen, der in die große Eingangshalle führte. »Asharti, komm und begrüße deine neue Schwester.«
Aus den Schatten tauchte eine junge Frau auf, die sich beklommen umschaute. Ihr Blick glitt über den großen Holztisch, die Wandbehänge an den Steinwänden, die Wandleuchter, die den Duft von brennendem Öl verströmten, welcher sich in den Holzgeruch des Kaminfeuers vermischte. Sie war schön auf eine Art, wie Beatrix es noch nie gesehen hatte. Ihre Augen waren dunkel, wie die Beatrix’, aber sie waren umrahmt von schwarzen Linien, was sie exotisch wirken ließ. Ihre Haut war einen Hauch zu olivfarben, aber sie war zart, und
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